Robert Streibel

Philosophisches Kammerspiel für mehr als eine Zielgruppe

Der neue Roman von Leon de Winter ≥Place de la Bastille„ ist ein dünnes Buch in dem viel Leben Platz gefunden hat.

Robert Streibel

Leon de Winter versteht sein Handwerk. In seinem jüngsten Roman ≥Place de la Bastille„ liefert er wieder einen uneingeschränkten Beweis dafür. In dieser Meisterschaft kann aber auch die Gefahr liegen, die Versatzstücke zu bunt und unkonventionell anordnen zu wollen, wie dies im Vorgängerroman ≥Malibu„ passiert war. In ≥Place de la Bastille„ beschränkt sich der niederländische Autor. Die Geschichte des Lehrers, Historikers und Familienvaters Paul de Wit, der am Beginn fernsehsüchtig ist, bekommt die Intensität eines Kammerspiels mit philosophischen Dimensionen.

Wenn es so was wie Zielgruppen ≥fishing„ geben würde, so wäre mit der Wahl der Person ein breites (männliches) Spektrum abgedeckt. Fernsehen tut jeder, wer nicht Lehrer ist, ist vielleicht Historiker und wem dies zu spezifisch, dann Familienvater und in der Midlife Krise, was in diesem Fall eine andere Frau miteinschließt. Bei diesem Punkt in der Aufzählung angelangt, könnten die weiblichen Leser nun die Augen rollen und Schlimmes befürchten: eine männliche Seele wird gehegt, gepflegt und gestreichelt. Doch das ist nicht alles, denn Paul de Wit ist das Kind jüdischer Eltern, die in irgendeinem KZ ermordet wurden und er hat einen Bruder, der ihm in dem Augenblick durchs Bild läuft, als er seine Freundin auf dem Place de la Bastille postiert, um sie zu fotografieren.
Zumindest bildet er sich das ein, was ihn jedoch nicht daran hindert, sein Leben unter anderem unter dem Stern der Suche nach dem möglichen Bruder neu zu ordnen, um… Doch der Schluss sei hier nicht verraten, obwohl es kein Kriminalroman ist, doch das Ende voraus zu schreiben würde der Ironie die Spitze nehmen und von der soll sich jeder gestochen oder zumindest gepiekt fühlen.

Mit diesen vielleicht für manchen abgeschmackten Versatzstücken eine spannende Geschichte zu komponieren, die fast so nebenbei exemplarischen Charakter bekommt für Lebensfragen zum Beispiel der Frage nach der ≥augenscheinlichen Vernünftigkeit der Geschichte„ ist etwas Besonderes. ≥Sie (die Geschichte) nimmt einem nachts wie ein Dieb, was sie einem bei Tag geschenkt hat, sie ist ein Luder, das Gefallen daran findet, einen irrezuführen und in dem Bad, in dem wir am liebsten planschen, dem Bad der Vernunft, ertrinken zu lassen.„ Diese Warnung hat der Geschichtslehrer de Wit seinem Unterricht nicht vorangestellt, so hat er nie eine Stunde begonnen, weil er resigniert hat. Er steht am Wendepunkt und sieht die Gefahr dämmern ≥Mein Zynismus würde in Konservativismus umschlagen„, wenn er so weitermachen würde. Und so hat auch keiner seiner Schülerinnen und Schüler gehört, was sein Ziel ist nämlich durch seine Präsentation von Vergangenheit nicht das Vertrauen in die Geschichte zu stärken, sondern das Misstrauen zu schärfen.

De Wit arbeitet nicht nur als Lehrer, sondern auch an einer Geschichte der Flucht von Ludwig XVI. und Marie Antoniett am Höhepunkt der französischen Revolution und versucht zu ergründen, warum die Flucht in Varenne endete und den Gang der beiden zum Schaffot bedingte. Die Zwangsläufigkeit in der Geschichte ist bloß eine Folge von Zufällen. (≥Ich konnte die künstlichen Sicherheiten, in denen ich lebte, nicht mehr ertragen. Sie basierten auf Anschauungen, die ich jetzt als fadenscheinig und pervers verwarf. Wie konnte ich Sicherheiten akzeptieren, wenn ich mir ständig bewusst war, wie relativ und subjektiv sie zustande kommen?„)

Historiker reden nicht nur über die Vergangenheit denn die gleiche Skepsis ist auch auf aktuellere politische Probleme anwendbar wie zum Beispiel Israel und so verabscheut er auch das ≥Bäumchen-wechsle-dich-Spiel: Die modischen Unterstützer für Israel schlagen sich nun auf die Seite der Palästinenser und Begriffe wie ≥Wahrheit„ und ≥historisches Recht„ trüben den Blick.

Dass Leon de Winter von einer aktuellen Familiengeschichte plötzlich wieder in der Opfer-Vergangenheit landet, mag manchen zwanghaft erscheinen, doch die überzeugendste Antwort auf diesen Reflex hat ein anderer Autor, der israelische Romancier Amos Oz kürzlich geliefert. ≥Sechzig Jahre später leiden Juden in Israel und woanders immer noch unter den Konsequenzen, die Deutschen hingegen überhaupt nicht. (…) Das Opfer, das im Rollstuhl sitzt, bleibt darin gefesselt. Und der Kriminelle, der ein paar Jahre im Gefängnis zugebracht hat, führt nach seiner Freilassung wieder ein normales Leben.„

Der neue Roman ist ein dünnes Bändchen mit etwas mehr als 150 Seiten. Der Leser, am Ende angelangt, hat jedoch das Gefühl, ein ganz dickes Buch gelesen zu haben. Warum? Weil das Ausgesparte lebt und ein Eigenleben in der Phantasie des Lesers entwickelt und das ist wohl auch ein Markenzeichen guter Literatur.

Place de la Bastille Roman von Leon de Winter Diogenes Verlag : Zürich 2005 160 Seiten, geb., Euro 17,90


Categorised as: Rezensionen