Robert Streibel

Kann Fragen stellen den guten Ruf gefährden?

Aufsehenerregende Dokumentation der englischen Autorin Carol Ann Lee über den Vater von Anne Frank, der den Denunzianten seiner Familie kannte.

Robert Streibel

Große Namen führen ein Eigenleben, und entwickeln eine Aura, die beim Näherkommen eines unmöglich machen: Fragen zu stellen. Die Familie von Anne Frank ist ein derartiger Fall. Der Name Frank steht als Zeichen und Symbol für das, was Juden angetan wurde.
Wer diese Tatsache der Ermordung leugnen wollte, der hat in der Vergangenheit Fragen gestellt, nicht um die Wahrheit zu erfahren, sondern um ein Netz kleinlicher Widersprüche zu spinnen, in dem verstrickt kein Vor und Zurück mehr möglich schien und somit auch die Perspektive des großen Mordens verschwimmen sollte. Die Diskussion um die Echtheit des Tagebuches von Anne Frank, die verschiedenen Fassungen, die existierten, haben dazu beigetragen, dass jeder der diesbezügliche Fragen aufwarf, sofort zuordenbar schien. In der Aura des Antifaschismus ist die Selbstverständlichkeit eine Frage der Gesinnung.

Wenn nun von der in Yorkshire geborenen Carol Ann Lee Fragen gestellt und auch Antworten gefunden werden nach mehr als 60 Jahren, so besteht weder die Gefahr, dass ein großer Name in Verruf gerät noch dass die Tatsache der Ermordung von Juden verkleinert bzw. relativiert wird. Für viele mag es schmerzlich sein, unglaublich ist es allemal, was sie recherchiert hat, denn Otto Frank, der Vater von Anne kannte wahrscheinlich den Denunzianten seiner Familie und hat ihn auch nach der Befreiung getroffen und gedeckt.
Sein Name ist Tony Ahlers, ein Lügner und Denunziant, der auch nach 1945 stolz war, dass dort wo er hintrete kein Gras mehr wachse. Während des Krieges verriet er viele untergetauchte Juden und kassierte Kopfgeld: bei 250 Personen hörte er auf zu zählen. Er hatte 1941 Otto Frank in seinem Büro aufgesucht und wusste vom Hinterhaus, da seine Mutter ebenfalls ein Haus mit der gleichen Bauweise bewohnt hatte.

Bis zum Jahr 1980 bekam er anonyme Zahlungen in der Höhe eines Direktorengehaltes, mit dem Tod Otto Franks endeten diese Zahlungen. Die Beweggründe für dieses sonderbare Verhältnis zwischen Frank und Ahlers sind vielfältige, vielleicht schien Frank Sorge um seinen guten Ruf gehabt zu haben, wenn entdeckt würde, dass er mit seiner Firma Opekta auch die Wehrmacht beliefert hat.

Carol Ann Lee entwickelt die Geschichte von Otto Frank, behutsam, sie berichtet aber auch vom frühen Antisemitismus bevor die Deutschen in die Niederlande einfielen und erzählt die Geschichte von Tony Ahlers, der als Agent provocateur gearbeitet hat, Fotos von politischen Schlägereien an die SS verkaufte und nicht zuletzt Otto Frank erpresst hat. Mit der Figur des Tony Ahlers entsteht ein anderes Bild der Niederlande, in dem es nicht nur Helfer und Widerstandskämpfer, sondern auch Täter und Mörder gab. Und nicht zuletzt macht sie die Situation nach der Befreiung deutlich.

Für Otto Frank war dies die Ungewissheit der ersten Monate, die Hoffnung, dass seine Familie doch noch zurückkehren würde, das Leben mit dem Wissen als einziger überlebt zu haben, die Gewissheit alleine zu bleiben und letztlich die Suche nach Mitgefangenen, die überlebt hatten und zumindest Erinnerungssplitter über die letzten Wochen und Tage bieten können.

Das Klima nach der Befreiung war für die Überlebenden keineswegs günstig, denn bereits im Juli 1945 war in der Zeitung des niederländischen Widerstandes zu lesen, dass Juden die überlebt hatten sich in Demut üben sollten. ≥Und folgendes sollten alle bedenken, die versteckt wurden: Sie haben viel zurückzuzahlen (…) Nun wäre es angemessen, wenn sich die Juden vor Übertreibungen hüteten… Sie sind wirklich nicht die einzigen, die gelitten haben und denen es schlecht ging.„

Das besondere Verhältnis zwischen Otto Frank und seiner Tochter wird an vielen kleinen Beispielen gezeigt (≥Oft habe ich Dir gesagt, dass Du Dich selbst erziehen musst. Wir haben das ≠Control‚ miteinander ausgemacht, und du gibst Dir selbst viel Mühe, das ≠aber‚ zu schlucken„). Es werden aber auch die verschiedenen Fassungen der Tagebücher erläutert und klar gemacht, warum Otto Frank gewisse Stellen nicht publizierte.
Auch hier sind die Beweggründe ein Bündel geschnürt aus Vorsicht und Eitelkeit. So ist zum Beispiel die Thematisierung des Verhältnisses der Eltern sowie Kritik von Anne an seiner Person in der publizierten Endfassung nicht vertreten. Unbeachtet blieb zum Beispiel auch Annes Einführung für das Tagebuch: ≥Papi, Mammi und Margot sind zwar sehr lieb, ich ich kann ihnen eine ganze Menge erzählen, aber mein Tagebuch und die Geheimnisse, die man nur einer Freundin anvertrauen würde, gehen sie nichts an„. Ein faszinierendes und mutiges Buch das dementsprechend auch in den Niederlanden für Aufsehen gesorgt hat.

Carol Ann Lee Otto Franks Geheimnis. Der Vater von Anne Frank und sein verborgenes Leben. München: Piper Verlag 2005. 494 Seiten geb., Euro 24,90


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