Robert Streibel

Am Krater der Erkenntnis

Ein Besuch in der Bergarbeiterstadt St Helens zwischen Manchester und Liverpool und die neue J.K. Rowling

Dave liebt die Krater für ihn könnten sie auch größer sein, am Rande das Dickichts, das man vorsichtig oder wild durchdringen kann, bevor man davor zu stehen kommt, um nicht hineinzustürzen,  hinunterzufallen, hineinzurutschen über den schlüpfrigen Rand, in das große Loch, in den Krater. In der kleinen Stadt in England gibt es viele Krater, manche sind natürlich, manche Relikte aus der Zeit als das Licht noch aus der Erde gebracht wurde, gehackt, gebohrt, geschaufelt, mit verkrüppelten Fingern und Knien, die nicht mehr so richtig wollten nach dreißig, vierzig Jahren Arbeit in gebückter Haltung unter Tag . «Ex Terra Lucem» steht auf dem Rathaus, das auch Black House heißt im Volksmund, der Ruß hat alle Gebäude schwarz gefärbt, durch mehr als ein Jahrhundert, bis Margret Thatcher beschlossen hat, dass es ein Ende haben müsse mit Kohlenminen und ihren aufmüpfigen Arbeitern und Gewerkschaften. Bis in die 1990er-Jahre wurde die Kohle nur wenige Meter weit  ins nahe Kraftwerk gebracht, um dort verheizt zu werden. Einen Steinwurf entfernt, so weit wie die Bergarbeiter unter Tag bis zu ihrer Arbeitsstelle gegangen sind. Jetzt reist die Kohle um die Welt, kommt aus Marokko, Australien oder Polen, damit Energietürme weiter rauchen, unter Tage würden noch Kohle für 40 Jahre liegen, doch das ist Vergangenheit.

«Terra in Lucem» steht auch auf der goldenen Kette des Majors von St Helens, die mehr als 100.000 Pfund wert ist, sie liegt nicht im Museum, sondern die trägt der Major, wenn er Besuche empfängt, für Feiertage gibt es auch eine Kette für die Ehefrau, die aber nicht ganz so wertvoll ist. Gespendet wurde die Kette wie das Szepter von reichen Bürger_innen und Bürgermeistern der Stadt. Die Vergangenheit wiegt schwer.

Einige Krater haben auch Bomben im Krieg geschlagen. Dave hat nur eine Hand, es sieht so aus, als ob er diese Verletzung von einem Kampf, vom Krieg oder einem Grubenunglück davongetragen hätte, im Krater oder davor. Im Ort haben sich alle an den Stummel gewöhnt, auch  bei den Tanzveranstaltungen wissen alle, dass es bei einem Gruppentanz unausweichlich ist, einmal den Stummel von Dave angreifen zu müssen, die Männer, wenn sie die Kette bilden, oder wenn der Kreis sich mit der Partnerin des anderen Paares schließt. Es ist aber nicht der Krieg und seine Folgen, der mittanzt, sondern bloß ein erwachsenes Contergan-Baby. Besonders fröhlich ist Dave, wenn er sein erstes Bier getrunken hat, aus der Dose. Wenn im Gemeindezentrum getanzt und musiziert wird, dann bringen alle ihre Getränke mit, denn der Klub hat keine Lizenz. Im Plastikbag ein Sixpack und eine Cola, manchmal auch Wasser und Wein. Wer vergessen hat, oder zu wenig eingepackt hat, der fährt noch schnell durch zwei Kreisverkehre. Der Shop hat bis 22 Uhr offen. Wer könnte als Einheimischer bei einem Fest auf den Alkohol vergessen, aber bei unerwarteten Gästen kann das schon mal vorkommen und wer will schon, dass die auf dem Trockenen sitzen, da spielt auch Dave gerne den Chauffeur.

Daves Liebe zu Kratern liegt in der Familie, denn alle Brüder waren beim Militär, seine beiden Söhne haben im Kindergarten nur mit kleinen Soldaten gespielt, die Armee endete nicht auf dem Teppich, auch das Vorzimmer musste besetzt werden. Jetzt sind seine Söhne in Afghanistan, einer ist Kommandant, der andere nur ein einfacher Soldat. Dave selbst hat nicht gedient, weder im Militär noch unter Tag, aber dafür hat er seine Liebe zu den Kratern gepflegt, auch wenn es keine Krater sind, sondern nur Ausbuchtungen der Natur, für ihn sind sie das Ergebnis eines Kampfes, denn auch das Wasser kämpft. Flooding wird zu manchen Zeiten so häufig genannt wie funding. Was es von einem Element im September 2012 zu viel gibt – die höchsten Regenfälle seit Jahrzehnten – so selten ist das andere, das Geld für Projekte, für community education zum Beispiel.

Dave könnte nicht durch das Gebüsch robben, aber tanzen liebt er auch mit einer Hand und bei einem irischen Gruppentanz kann es vorkommen, dass er die Frau hochhebt und einfach herumwirbelt, mit einer Hand. Als eine europäische Delegation den kleinen Ort besucht, führt auch Dave eine kleine Gruppe durch die Natur, zum See und zu den Kratern. Aber keine militärischen Spiele und Sprüche, wird ihm aufgetragen. «Dave, wir haben eine Abmachung!» Es war Zufall, dass in der Gruppe von Dave auch Günter, ein junger Deutscher, durch den Regen stapft. Dave weiß um die Abmachung, aber die Verlockung ist zu groß. «Dieser Krater, den habt ihr geschlagen», meint er zu Günter. «Gibt es bei Euch noch Krater von uns? Welcher ist größer? Hast Du einen größeren bei dir zu Hause?» Der Humor in britischen Kohlestädten ist herzlich, und zuweilen schmutzig, wie Männer nach einem Rugbyspiel.

Es ist drei Mal so viel Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen wie seit der Schließung der Kohlenminen, die Hügel und Krater sind längst bepflanzt auf den Kohlenhalden wird geträumt. Ein dichter Wald, undurchdringlich verwischt alle Spuren. Die Biologen waren nicht sicher, welche Sträucher und Bäume auf diesem unwirtlichen Untergrund überhaupt gedeihen würden. Dass alles sprießt damit hatten sie nicht gerechnet. Wenn Gary Conley eine Gruppe auf den kleinen Hügel führt, dann regiert nicht der Albtraum von der Eisernen Lady, die selbst die alten viktorianischen Gebäude der Mine nach der Niederlage des Bergarbeiterstreiks 1984 schleifen ließ, sondern von der großen Familie unter Tag, von der Gemeinschaft, die einmal war, spricht er und von der Zukunft, die vor den BewohnerInnen von St Helens liegt. Er selbst hat im großen Bergarbeiterstreik mitgestreikt, neun Monate lang, dann ist er wieder eingefahren. «Es war ein Kampf zwischen Herz und Hirn und ich habe mich dann für letzteres entschieden, gegen mein Herz.»

Gary Conley ist einer der letzten Miner, die noch so fit sind, um zu zeigen, was hier einmal war, die beiden Schächte, wo heute tote Bergarbeiter noch ihre Asche verstreuen lassen. Würden Sie sich in der Nähe Ihrer Arbeitsstelle, Ihrer Firma begraben lassen? Hier passiert es, denn die Bergarbeiter, das war eine große Familie. Gary ist mit 16 zum ersten Mal in die Grube gefahren und das bis zum bitteren Ende. Ein Wunder braucht es, damit der Satz: Die Vergangenheit ist vorbei, was aber zählt ist die Zukunft, Realität wird.
Der spanische Künstler Jaume Plensa  hat es geschafft, dass zumindest auf dem Hügel über St Helens wieder geträumt wird. Bei seiner 20 Meter hohen Statue «Dream» gegossen [ kann Marmor gegossen werden?] aus italienischem Marmor und britischem Zement auf der Old Sutton Manor Colliery Site scheint das Gesicht des jungen Mädchens mit den geschlossenen Augen so weich, so flüchtig, als hätte der Wind im Nordwesten Englands bloß ein Leintuch über ihr Gesicht geweht. Alles scheint für das Mädchen möglich zu sein, im Traum in greifbarer Nähe. Mit dieser Statue hat die Stadt Abschied genommen von der Vergangenheit, keine Bergarbeiter, keine Männerhände wie bei der Skulptur von Arthur Fleischmann, der neben Miners auch gerne Päpste porträtierte. Nicht viel anders im Stil ist «The Anderton Shearer Mining Memoria», das einen Kopf eines Bergarbeiters mit Helm mit der revolutionären Maschine, «a coal cutting machine», die von Anderton Shearer 1950 entwickelt und in St Helens zum ersten Mal eingesetzt wurde, kombiniert. Dass als neues Wahrzeichen von St Helens nicht eine alte überdimensionierte Grubenlampe zu sehen ist, ist einer Gruppe von Bergarbeitern rund vom Gary Conley zu verdanken. Als der spanische Bildhauer dieses Sujet präsentierte lehnten sie ab, sie wollten etwas Neues, etwas das auch die Aufmerksamkeit der Autofahrer auf dem M62 im Vorbeifahren erregen würde. So kam es zum Traum des neunjährigen Mädchens mit geschlossenen Augen.

Am Ende des Besuchs in St Helens stellt sich Günter die Frage: «Was habe ich gelernt, was weiß ich jetzt über St Helens und seine Bewohner_innen, über Dave und Gary?» Wie alle Teilnehmer_innen der Grundtvig Lernpartnerschaft hat er in der Früh BBC verfolgt. Beim Anziehen und Zähneputzen leistet das Moderatorenduo willig Gesellschaft. Unter den zehn Städten, die in diesem schlimmsten Regen-September seit Jahrzehnten am ärgsten von den Überschwemmungen betroffen waren, befand sich auch St Helens. Mitbekommen hat keiner der Gäste etwas, außer nassen Schuhen und Jacken, die aber auch bloß das Ergebnis eines längeren Spaziergangs in einer Großstadt gewesen sein könnten. Es ist mit dem Reisen wie mit den Kratern, oft wissen wir nicht, wer und was die Wunden geschlagen hat, die Natur, der Krieg oder der Neoliberalismus. Und da nützt es auch nichts, wenn wir direkt davor stehen oder uns in unmittelbarer Nachbarschaft befinden.
Beim Heimflug auf dem Flughafen stolpert Günter nicht über einen Kohlebrocken oder in einen Abgrund eines Kraters. Die neue J.K. Rowling wird ausgeliefert und Bücher türmen sich wie Fördertürme und die kleineren Stapel versperren den Weg, wie Barrikaden von Streikposten. Zu Sturz kommt er nicht, aber die Zeit nach dem gerade noch verhinderten Fall nutzt er, um den Klappentext zu lesen.

«Als Barry Fairbrother mit Anfang vierzig plötzlich stirbt, sind die Einwohner von Pagford geschockt. Denn auf den ersten Blick ist die englische Kleinstadt mit ihrem hübschen Marktplatz und der alten Kirche ein verträumtes und friedliches Idyll, dem Aufregung fremd ist. Doch der Schein trügt. Hinter der malerischen Fassade liegt die Stadt im Krieg. Krieg zwischen arm und reich, zwischen Kindern und ihren Eltern, zwischen Frauen und ihren Ehemännern, zwischen Lehrern und Schülern. Und dass Barrys Sitz im Gemeinderat nun frei wird, schafft den Nährboden für den größten Krieg, den die Stadt je erlebt hat. Wer wird als Sieger aus der Wahl hervorgehen – einer Wahl, die voller Leidenschaft, Doppelzüngigkeit und unerwarteter Offenbarungen steckt?»

Um am Rande des Kraters zu stehen muss man sich nicht durch Dickicht kämpfen oder sich in nachrutschendem Gestein hochkämpfen, auch ein Buch kann einen Krater schlagen, selbst wenn er von den Literaturexperten noch gar nicht als solcher erkannt wird. Günter braucht nicht lange, um sich der tödlichen Geographie bewusst zu sein und er versteht die schlechten Kritiken des Buches «Casual Vacancy» («Ein Plötzlicher Todesfall») nicht. Eine Gesellschaft im sozialen Krieg, Stadtteile wie die «Fields» wie in Rowlings Roman gibt es auch in St Helens. Sue Mills von der Park Farm in St Helens, einem Zentrum für Erwachsene, Kinder und Jugendliche hat von den sozialen Problemen berichtet. Bildungsarbeit beginnt beim Frühstück in einem Gebiet wo chips als adäquates Morgenmahl gelten. St Helens gehört in diesem Frühjahr zu den zehn am stärksten betroffenen Regionen mit Jugendarbeitslosigkeit in England. Die Statue auf dem bewaldeten Kohlehügel über dem «Motorway 62» träumt von der Zukunft und dem Gefühl gebraucht zu werden.

Robert Streibel, September 2012


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