Robert Streibel

Das Wertvollste meiner Jugendzeit

Christa Gierer erinnert sich an Louis Mahrer

Nun schreibe ich Ihnen dieses lange überlegte, immer wieder fallen gelassene mail doch, denn es wird mir immer deutlicher, welch großen Wert das von Ihnen herausgegeben Buch „Bora“ von Louis Mahrer für mich hat.

Ich war von 1954-59 seine Schülerin in der Bundesgewerbeschule für Hochbau in Krems. Mein Vater, traumatisiert aus Krieg und Gefangenschaft heimgekehrt, flüchtete, lebensunfähig, wie er war, in den Aufbau eines Betonsteinwerkes und schickte mich ohne viel zu fragen dahin. Es war für mich die falscheste Schule, denn ich hatte für Technik keinen Sinn, war ganz der Literatur und dem Theater hingegeben und in dieser Situation stieß ich auf diesen wunderbaren Deutschprofessor.

Es entstand eine besondere Beziehung zwischen ihm und mir.  Als er mich nach einer Prüfung,  die ja mehr ein intensives, schönes Gespräch war, mit einer Aufgabe in der Bibliothek betraute, entstand im Hin und Her seiner Schlüssel – ein Vertrauensbeweis für mich –  ein Boden, den ich als den meinen erkannte, der aber durch das andere, mir fremde, das ich mir aneignen musste, verhindert wurde. Ich durfte über alles referieren, Colettes „Gigi“, die Kaiserin Elisabeth, Stefan Zweigs „Joseph Fouché“. Ich erinnere mich noch, wie er über Peter Altenberg sprach – Altenberg in einer Bauschule!  Einmal hatten wir eine Schularbeit, deren Thema die Atombombe war, ob wir uns bedroht fühlten oder so ähnlich. Ich hatte zu politischen Themen überhaupt keinen Zugang und wusste einfach nicht, was ich schreiben sollte. Am Ende der Stunde versuchte ich aufrichtig, meine Unfähigkeit zu erklären, es waren nur wenige Zeilen. Er schrieb darunter: „Ein wenig kurz, aber trotzdem sehr gut.“

Von einer Fahrt nach Südfrankreich, die „cité radieuse“ von Le Corbusier zu besichtigen, ist mir der kleine Vortrag, den er uns am Vorabend hielt, deutlicher in Erinnerung als das Gebäude. Manchmal sagte er ganz private Sätze über seine Familie zu mir, beispielsweise welches seiner Kinder ihm und welches seiner Frau ähnelte – das fiel mir ein, als ich sie im Film sah. Ich war auch zum Kaffee eingeladen, konnte mich aber an seine Frau erst wieder durch das Foto im Buch erinnern.  Er verschaffte mir eine Nachhilfeschülerin in Mathematik und einmal sagte er zu mir „Sie hätten in ein humanistisches Gymnasium gehört“, mit einem so warmen Verständnis, dass ich es bis heute nachempfinden kann.

Es lag nahe, den Kontakt nach der Matura aufrecht zu halten, es lag an mir, dass es nicht geschehen ist. Der väterliche Betrieb wuchs rasant, ich war den Belastungen nicht gewachsen und ging weg. Ich ging nach Wien, versuchte zu schreiben und interessierte mich für Bewegung. Am hilfreichsten war mir eine Schule für geistige und körperliche Erziehung, geleitet übrigens von einer Schwarzwaldschülerin. Susanne Schmida studierte Philosophie bei Robert Reininger und war eine der ersten Frauen, die in Österreich ein Doktorat erwarben.

In meinem Schreibtisch liegt ein kleiner Brief von Louis Mahrer, den er mir nach einem Klassentreffen, bei dem ich nicht anwesend war, geschrieben hat. Er richtete mir Grüße von den Klassenkameraden aus und meinte, dass mir Krems nicht ganz fremd werden sollte. Er schrieb von Reisen, die er im Sommer machen wollte, erkundigte sich nach meiner literarischen Tätigkeit und dass er sich freuen würde, wenn ich ihn im Herbst besuchen würde. Er schrieb mir seine Telefonnummer auf und bat, ihn anzurufen. Ich tat es nicht. Ich konnte den Abgrund, der sich zwischen mir und Krems aufgetan hatte, nicht überbrücken. Es hat mich aber immer belastet, denn die Begegnung mit ihm war das Wertvollste meiner Jungendzeit. Den Brief habe ich aufgehoben, aber nicht mehr geöffnet und es war fast etwas von Erleichterung in mir, als ich von seinem Tod erfuhr. Er ist mit 1974 datiert. Damals habe ich an Reinhard Federmanns Literaturzeitschrift „Die Pestsäule“ mitgearbeitet und Hugo Huppert hat mir seine Gedichte geschenkt mit aufwendigen, netten Widmungen – wie seltsam das alles ist.

Nun, nach der Lektüre seines Buches, durch die ich den Menschen Louis Mahrer kennenlernte, von seinem „geborgten Leben“ erfuhr und nach Ansehen des Films habe ich mich zusammen genommen und den Brief wieder gelesen. Nach und nach stellte sich das Gefühl einer neuen Begegnung ein. In seinem Arbeitsjournal, das mich tief berührt hat, schreibt er von der Notwendigkeit einer praktischen Lebenslehre, einer Rückkehr zur Natur wahren Menschentums und genau das habe ich zu meinem Beruf gemacht.

Ich hätte das Institut von Susanne Schmida übernehmen können, aber ich suchte nach ihrem Tod nach einer Ergänzung. Durch einen Vortrag eines Arztes erfuhr ich von dem Bewegungswissenschaftler Max Thun-Hohenstein. Hin- und hergerissen zwischen Literatur und Bewegung interessierte ich mich für seine Lehre mehr, weil ich ihn aus den Briefen von Karl Kraus an seine Geliebte Sidonie Nádherný kannte, wo dieser ihn als „gestörten Geistes“ bezeichnet. Sie war seine Cousine, stand zu ihm, heiratete ihn sogar, kehrte jedoch zu Kraus zurück. Das Beziehungsgeflecht, das hier auftauchte, interessierte mich menschlich, wie bewegungswissenschaftlich gleichermaßen. Ich schrieb einen Artikel über ihn, den niemand veröffentlichen wollte, schrieb ihn mehrmals um und wurde gleichzeitig immer mehr von seiner Lehre gefesselt. Schließlich übernahm ich sie und gebe sie nun weiter. Ich schreibe auch über Bewegung und habe so meinen Ausdruck gefunden. György Sébestyen hat meine kleinen Artikel noch in der „Furche“ gebracht, doch nach seinem Tod wurde das anders. Thun-Hohensteins Lehre wird heute, wie das Gestaltdenken generell, abgelehnt und undifferenziert in das „braune Eck“ gestellt. Ich bin sicher, dass Louis Mahrer in ihr die von ihm gesuchte Rückkehr zum wahren Menschentum gesehen hätte und die Verwobenheit von praktischer Lebenslehre und Literatur hätte ihm gefallen. Die von Thun-Hohenstein, wie auch von Adolf Loos, gebrauchte Bezeichnung „Sozialaristokratie“ käme seiner Vorstellung von Kommunismus nahe.

Die Begegnung mit Dr. Alois Mahrer war nicht nur das Wertvollste meiner Jugendzeit, sondern – das ist mir durch das Buch klar geworden –  gab sie mir so viel an Boden, an meinem Boden, dass es mir später möglich war, meine Identität wieder herzustellen, so wie sie mich nun stärkt, meinen Weg trotz aller Widerstände weiter zu gehen.


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