Robert Streibel

Die Zukunft historisch betrachtet

Oliver Rathkolb markiert mit seiner Studie ≥Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005„ einen Paradigmenwechsel.

Robert Streibel

Österreich lebt mit und in seiner Geschichte. Und trotzdem wurden Teile der jüngsten Geschichte lange ausgeblendet. Das Bemühen der Zeitgeschichteforschung diesem Manko zu begegnen, hat jedoch nicht nur mit einer moralischen Verpflichtung zu tun, sondern ist notwendig für eine Standortbestimmung im Heute. Wie die Auseinandersetzung mit der Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus als Basis für eine Analyse der gegenwärtigen politischen Situation genützt werden kann, zeigt der Historiker und Direktor des neuen Ludwig Boltzmann-Instituts für europäische Geschichte Oliver Rathkolb in seiner Publikation ≥Die paradoxe Republik„. Er wagt einen großen Sprung von der Vergangenheit bis in die Gegenwart und schreckt vor der Zukunft nicht zurück.

Die Zukunft historisch betrachtet: Eine paradoxe Sache. Doch das passt zu seiner Geschichte Österreichs zwischen 1945 und 2005. Das Buch markiert einen längst fälligen Paradigmenwechsel in der Zeitgeschichte indem er das Analysefeld der Forschung über die Besatzungszeit bis in die Gegenwart ausweitet. Keine langweilige Chronologie, sondern thematische Schwerpunkte in zehn Kapiteln setzt der Autor und macht auch deutlich, wie mühsam der Weg Österreichs in die Moderne war.

Über die österreichische Identität, die Eigenheiten der Demokratie, die Wirtschaftspolitik und die Medienlandschaft bis hin zu Neutralität und Kultur reicht der Bogen. Dafür bedarf es einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein, doch mit profundem Wissen und dem nötigen Interpretationsrahmen ist dies möglich. Was Ernst Hanisch mit seiner Gesellschaftsgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert ≥Der lange Schatten„ begonnen hat, setzt Oliver Rathkolb fort. Strukturgeschichte wird zu einem faszinierenden Abenteuer des Mitdenkens und Wiedererkennens und lässt selbst die aktuellsten politischen Ereignisse in einem neuen abgeklärten Licht erkennen.

Was ist nun aber paradox an dieser Republik? Zum Beispiel der Bezug auf die Vergangenheit, obwohl nur 8 Prozent angeben, über den Zweiten Weltkrieg regelmäßig zu sprechen. Der Rückbezug betrifft zum Beispiel auch das kulturelle Erbe bei gleichzeitiger Fokussierung auf das unmittelbar Österreichische. Das große Erbe der Monarchie und des Vielvölkerstaates wird auf das Kernland reduziert und gleichzeitig das Lernpotential, dass das Beispiel der Integration vieler Nationalitäten bietet, ausgeklammert.

Austro-Solipsismus lässt nationalstaatliches Denken und Selbstverständnis stärker denn je werden, während doch eine europäische Dimension des Denkens notwendig wäre. Österreich stimmt für den EU-Beitritt und trotzdem ist die nationale Identität seit 1989 noch stärker nach innen verengt worden. Die exklusiv nationale Identität boomt und ≥findet noch keinen festen Platz im europäischen Diskursraum„.
Viele Paradoxien tun sich auf. Und mit Untersuchungen und Studien in der Hinterhand bietet Rathkolb Material für diese Strukturgeschichte und scheut sich nicht, Tabus zu brechen zum Beispiel in der Darstellung des Konfliktes zwischen Kreisky und Wiesenthal. Die Frage nach dem autoritären Charakter (≥der starken Kontinuität autoritärer Codes„) ist selten so auf den Punkt gebracht worden, wenn er betont, was die Wahlergebnisse zeigen: ≥Autoritäre Neigungen waren bei Wähler/innen der SPÖ an erster Stelle bei jenen Themen zu finden, die einen Hang zur Konvention, zum Irrationalismus signalisierten sowie latentes Aggressionspotential gegen Randgruppen und Minderheiten beinhalteten„, wobei die SPÖ-Kernwähler sich hier sogar noch vor FPÖ-Anhängern outeten. Dieses autoritäre Potential wurde durch die ≥Sicherheitspackung des Wohlfahrtsstaates mit einer aktiven Arbeitsplatzsicherungspolitik„ unter Kreisky zurückgedrängt. Das gibt Denkarbeit auf.

Neben Tabubrüchen erfolgt auch so manche Redimensionierung zum Beispiel des Mythos des Wirtschaftswunders, Stichwort Kaprun. Nur der Fleiß der Österreicher – die Frauen werden dabei gerne auch heute noch übersehen – wäre alleine für den Wirtschaftsaufschwung ausschlaggebend gewesen, ohne die Wirtschaftshilfe in Rechnung zu stellen.
Die paradoxe Republik ist ein Buch, dass in der Betrachtung die nationalstaatliche Enge abstreift und dem Leser eine neue Perspektive eröffnet, als würde man Österreich unabhängig von Zeit und Raum betrachten und vieles plötzlich aus der Distanz schärfer sehen.

Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005 Oliver Rathkolb Wien: Paul Zsolnay Verlag 2005 462 Seiten, geb., Euro 26,70


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