Robert Streibel

Gerechtigkeit für einen Hochstapler

Die Historikerin und Journalistin Anita Kugler schreibt mehr als nur die Geschichte eines jüdischen SS-Offiziers.

Robert Streibel

Ein jüdischer SS-Offizier. Was es nicht alles gibt. Sechzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus finden wohl nur mehr die ausgefallensten Geschichten den Weg in die Buchregale und können mit einer gewissen Aufmerksamkeit rechnen. Was gibt es noch alles?

So könnte vielleicht die erste Reaktion auf dieses Buch sein, die Hintergedanken des Rezensenten waren ähnliche und vielleicht noch böser: Fehlen wohl nur mehr die letzten Tage des Schäferhundes von Adolf. Vor-Urteile sind dazu da überwunden zu werden. Um sich Klarheit zu verschaffen bedarf es nicht, die ganzen mehr als 600 Seiten durchgearbeitet zu haben, die Anmerkungen allein machen schon an die zusätzlichen 100 Seiten aus. Gewissheit, dass hier das Ergebnis jahrelanger ernsthafter Recherche, die die Autorin durch die ganze Welt geführt hat, vorliegt, stellt sich bereits nach den ersten 20-30 Seiten ein. Die restliche Lektüre ist getragen von der Lust der Erkenntnis und der Bewunderung, dass eine Autorin die richtigen Fragen gestellt und das Gespür für eine Form der Präsentation entwickelt hat, die selbst bei Kriminalromanen nicht sehr häufig ist. So spannend kann Geschichte sein.

Wer sich auf den Weg macht fragt sich vielleicht auch nach dem Wissensgewinn, der am Ende wartet. Lohnt sich die Lektüre, da es offenbar doch nur um die Geschichte eines SS-Mannes geht, der Jude gewesen sein soll? Anita Kugler trifft den Nerv unserer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus, denn ihr Protagonist ist nicht nur Geschichte, sondern reicht weit in die unmittelbare Zeitgeschichte und er zeigt wie sehr die Beurteilung von Ergebnissen von der jeweiligen Position und der Interessenslage abhängt und wie schwer es sein kann, zu einem endgültigen objektiven Urteil zu kommen.

Im Jahr 1948 wird der Regionalleiter für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus Dr. Eleke Scherwitz in München als mutmaßlicher Kriegsverbrecher verhaftet, ihm wird vorgeworfen ein KZ-Kommandant gewesen zu sein. In der Folge präsentiert Scherwitz verschiedene Versionen seiner Geschichte, doch er ist mehr als ein Lügner, denn die Geschichte des Gebietes aus dem er stammt ist selbst für Historiker eine Herausforderung.

Biographien sind immer eine Frage der Re(Konstruktion) von Identität und die können auch je nach politischen Gegebenheiten wechseln und dies hat nicht unbedingt etwas mit Opportunismus zu tun. Die verschiedenen Versionen von Scherwitz sind auch ein Musterbeispiel wie Leben unterschiedlich erzählt werden kann.

Eine Lüge lange betrachtet bekommt fast den Schimmer der Wahrheit. Ist die Lüge bloß die Möglichkeitsform der Wahrheit? Anita Kugler spürt den Lügen oder auch Versionen des Lebens nach, findet Sackgassen und mögliche Erklärungswege. Die Ausgangssituation ist nicht einfach, denn Scherwitz soll 1910 in Wilna oder Schaulen geboren worden sein, doch die Faktenlage ist ≥so dünn wie chinesisches Seidenpapier„, denn Familien wie die Scherwitz waren Luftmenschen, waschechte osteuropäische Juden, die von irgendwoher kamen, irgendwie lebten und durch alle Volkszählungsregister durchrutschten.

Scherwitz hat nicht nur die Verhörbeamten Ende der vierziger Jahre in ein Labyrinth geschickt, sondern es Jahre zuvor auch geschafft, die SS zu täuschen mit einem fingierten Lebenslauf, als er angab aus Buscheruni in Ostpreußen zu stammen, alleine dass es diesen Ort gar nicht gibt. Scherwitz war ein Hochstapler, markant durch sein großspuriges Auftreten. Er trat 1933 in die SS ein dementsprechend bedeutete die Versetzung von Berlin nach Litzmannstadt, dass er nicht als Häftling sondern als Bewacher mit einer Polizeieinheit dort Dienst tat.

Wie einer seine eigene Geschichte verschleiert auch dafür liefert dieses Leben ein Beispiel, dem auch andere gefolgt sind um dann die Tätigkeit von Polizeieinheiten in Litauen und Riga zu verharmlosen.

Rund um die Aufklärung zur Person Scherwitz entsteht ein minutiöses Puzzle über die Vernichtung der Juden in Riga und die Beteiligung deutscher und österreichischer Polizisten und SSler aber auch Militärs und natürlich kommt auch die Frage zur Sprache, ob man sich dem entziehen hätte können. Der Antisemitismus unter wechselnden politischen Voraussetzungen, bevor die Deutschen kamen waren die Sowjets in den drei baltischen Ländern und später waren sie wieder hier: Der Antisemitismus blieb und wurde nur jeweils anders gewandet.

Fest steht, dass Scherwitz am Washington Platz in Riga, wo SS-Offiziere und SD Größen lebten Werkstätten für deren besonderen Bedürfnisse einrichtete und die Arbeiter aus dem Ghetto von Riga anforderte.

Der verkommene Luxus, dem die Bonzen frönten, die Gier mit der der Besitz der ermordeten Juden in Beschlag genommen wurde, sind wohl selten so eindringlich geschildert worden. In Rumbula nahe von Riga wurden innerhalb von nur zwei Tagen im Dezember 1941 25.000 Juden erschossen. Scherwitz hat als Leiter der Werkstätten hunderten Jüdinnen und Juden das Leben gerettet. Die Überlebenden, des Ghettos haben nach dem Krieg gegen ihn ausgesagt und nicht wenige haben nach Jahrzehnten ihre Meinung revidierten und manche von ihnen bereuten sich gegen Scherwitz gestellt zu haben.

Dieses Buch ist mehr als eine Biographie den es berichtet eindringlich von der Ermordung der Juden in Riga. Scherwitz war kein Held, aber Gerechtigkeit sollte ihm widerfahren. Die Autorin hat sich darum bemüht und das Ergebnis zwingt dazu einen Sinnspruch abzuändern: Wer eine Geschichte erzählt erzählte die Geschichte von allen.

Anita Kugler: Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier. Köln: Kiepnheuer & Witsch 2004 758 Seiten, geb., Euro 22,90


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