Robert Streibel

Grenzenlos stellvertretend

Eröffnung im Literaturhaus Krems, 20.11. 2008 der Installation Stellvertreter

Robert Streibel

Wir stehen hier an einer Grenze, die nur scheinbar durch eine Mauer gekennzeichnet ist. Gefängnisse haben es so an sich, dass sie abgegrenzt sind vom Alltag. Diese Grenze gibt es in jeder Gesellschaftsform.

Die Grenze von der ich spreche ist eine unvorstellbare, so wie jene von Leben und Tod. Eine Grenze von Gesetz und Humanität. Während die einen hinter dieser Mauer von Beginn an die Tage zählte, schien es den anderen der Mühe nicht Wert, denn tausend Jahre sind eine lange Zeit. Während auf der einen Seite der Mauer die Uniformität zählte, von der Uniform bis zur Rasse, von den Gedanken bis zum Glauben. Die Unterschiede auf der anderen Seite waren so groß, dass sie nur schwer in einer Aufzählung Platz finden. Unterschiedliche Berufe, unterschiedliche Herkunft unterschiedliche Nationalität. In diesem Zuchthaus, so pflegte man jene Anstalt zu nennen, waren in der Zeit des Nationalsozialismus jene, die sich der Uniformität widersetzt hatten, die Widerstand geleistet hatten, die Flugblätter gedruckt und verbreitet hatten, die für Inhaftierte gesammelt und gespendet hatten, die die Lüge eine solche nannten und den Krieg nicht als Erfüllung eines langgehegten Traumes ansahen. Politische und Kriminelle, Kommunisten wie Katholiken und Wehrkraftzersetzer. Schwarzhörer und Schwarzschlachter. Wiener, Steirer, Deutsche, Franzosen, Tschechen, Polen, Kroaten und Griechen. Ein Teil Europas. Das andere Europa, von dem wir heute wieder sagen können: unser Europa.

Stein war das größte Zuchthaus auf dem Gebiet der damaligen Ostmark. Um das Ganze, das Volksganze rein zu halten muss der Dreck hinter der Mauer verschwinden. Diese Grenze war eine Grenze der Willkür. Das System des Nationalsozialismus hatte viele Grenzen überschritten, nicht nur Ländergrenzen, Grenzen des Anstands und der Humanität. So summt es in der Volksseele. Die Idee der Vernichtung war gegen jedes Gesetz, selbst gegen das Gesetz, den Krieg gewinnen zu wollen. Gegen jedes Gesetz, denn alleine die Tatsache, dass im Jahr 1944 400 Griechische Häftlinge in Zügen verfrachtet wurden, damit sie nicht befreit werden würden, um sie hier tausende Kilometer entfernt von ihrer Heimat weiterhin einzusperren zu können, zeigt, dass wir hier an einer mörderischen Grenze stehen. An diesem Beispiel wird ein Zipfel des Unvorstellbaren greifbar. Der Krieg an den Fronten war nebensächlich, was zählte war der Krieg für die Uniformität. Es war besser, Züge für den Transport der Gefangenen zur Verfügung zu stellen, als für das Militär. Hier waren es Griechen in einem anderen Fall ungarische Juden, die 1944 in die Vernichtung deportiert wurden, organisiert von ≥Österreichern„. Letztlich zählte nur die Vernichtung. Am 6. April 1945 standen einige hundert Häftlinge an dieser Grenze. Und die Freude, Unsicherheit und das Durcheinander sind groß gewesen nach den Jahren der Ungewissheit. Eine Vielfalt der Sprachen, der Personen, der Geschichten. Doch diese Grenze sollte nicht überschritten werden, denn hier hatten sich die Uniformen versammelt. Es ist ein Irrglaube, dass das Böse nur eine Uniform trägt. Ein vielfältiger Mix wie sie da auch heißen SA, SS, HJ, Volkssturm und nicht zuletzt Wehrmacht. Das Morden kannte keine Grenzen. Handgranaten in die Keller geschmisen, MP Salven und gezielte Schüsse. Das Morden war hier und in der Stadt, an der Eisenbahnbrücke, auf der Ringstraße, an den Abhängen des Steiner Kreuzberges, und in der Ebene, Richtung Wien in Hadersdorf und Richtung St. Pölten in Hörfarth in Paudorf und…

An dieser Grenze stehen wir. Niemand anderer kann hier stehen. Im Jahr 1995 konnten wir hier 385 Kreuze aufstellen und dahinter standen Jugendliche, um die Dimension begreifbar zu machen. Stellvertretend. Stellvertreter. Diesem Wort haftet manchmal bei entsprechender Betonung etwas Abschätziges an: Nur zweite Wahl. In diesem Fall gibt es keine andere Wahl. Es gibt niemand anderen mehr. Die Überlebenden sind heute so tot wie die Toten des April 1945. Kein Unterschied mehr im Vergessen? Josef Czarmann, Leo Kuhn, Alois Morwitzer, Raimund Hanke, Max Hoffmann, Hans Höllisch, Wilhelm Weinert und Gerassimos Garnelis, der 1945 befreit hier in Krems geblieben ist. Wären da nicht die Interviews mit ihnen aufgezeichnet gegen das Vergessen, wären da nicht die Aktivitäten der virtuellen Gedenkstätte Hadersdorf von Gerhard Pazderka, es wäre wirklich kein Unterschied zu den anderen. Kein Unterschied im Vergessen zu: Giovanni Noceri. Zu: Unbekannt Größe 1,70, schwarze Haare, gute Zähne, hohe Schuhe 43 1 Militärmütze, braunes Hemd, grauer Pullover, 1 Taschenmesser 1 grüne Stiefelhose, dunkelgraue Socken. Zu: Erkennungsmarke 624. Zu: Michael Theodoridis. Zu: Unbekannter Mann Erkennungsmarke ST 193.

In vielen Fällen blieben nicht ein Mal mehr Namen. Und die Idee der Namen zu gedenken, die Namen der Erschossenen und Erschlagenen am Ort des Geschehens in Hadersdorf geschrieben zu sehen, sehen politisch Verantwortliche wie Bürgermeister Bernhard Toms als Zumutung und Einmischung in die inneren Angelegenheit einer Dorfgemeinschaft. Wie summt die Volksseele? In vielen Fällen blieben nicht ein Mal mehr Namen. Und das haben die Opfer mit den Tätern gemeinsam. Und lassen sie mich zum Schluss noch eine andere Grenze überschreiten, jene des Irrglaubens, dass die Täter für diese Verbrechen tatsächlich verurteilt worden wären. Die Österreichische Justiz hat kurz nach dem Krieg große Anstrengungen unternommen und im Stein-Prozess sind tatsächlich Todesurteile gesprochen worden. Zum Tode verurteilt wurden: der SA Standartenführer Leo Pilz, der Stellvertretende Leiter des Zuchthauses Stein, Alois Baumgartner, der Betriebsleiter der Schusterei des Zuchthauses Stein, Anton Pomassl, der Justizhauptwachtmeister Franz Heinisch sowie der Oberverwalter und oberste Kommandant der Justizwache des Zuchthauses Stein, Eduard Ambrosch. Wegen vielfachen vollbrachten Mordes sowie wegen Kriegsverbrechens und Verbrechens der Quälerei und Misshandlung nach dem Kriegsverbrechergesetz. Tod durch den Strang. Der Hilfsaufseher Karl Sperlich, der Justizhauptwachtmeister und Betriebsleiter des Heizhauses Alois Türk, der Aufseher Karl Forster, der Hilfsaufseher Johann Doppler sowie der Justizhauptwachtmeister und Betriebsleiter der Druckerei des Zuchthauses Stein Franz Ettenauer erhielten eine lebenslange Haftstrafe, das bedeutet Freiheit nach 1955. Einer dieser Verurteilten hat die Schuld nicht tragen können und hat am Massengrab in Stein Ende der 80iger Jahre Selbstmord verübt. Auch das muss gesagt warden. Doch die Suche nach den vielen (Mit)Tätern in Stein und Hadersdorf wurde nie geführt. Aufseher und SA-Männer wie Leo Pilz wurde verurteilt, doch hier muss klar gesagt werden, dass für das Morden von 386 Menschen mehr an Uniformen und Uniformität notwendig war. Ungesühnt bis heute.

Grenzenlos stellvertretend heißt es nun, mit den SchülerInnen des BRG. Die SchülerInnen haben diese Gedanken im Unterricht formuliert und sie während der Veranstaltung verlesen. Ist Gedenken eine Form das Gewissen zu beruhigen. (Thomas)

Wir Sind es den Opfern schuldig. ( Romana)

Ich will nicht wegschauen. ( Elisabeth)

Unbekannter Mann 61, Johannes 16 stellvertretend für meine Freundin Anna Sophie

386 Tote/ die Hälfte der Schüler des BRG. ( Denise)

Den Kreislauf des Gedenkens fortsetzen. ( Katja)

Weil es mir nicht egal ist. ( Martina)

Blinde Vergangenheit, das Augenlicht der Zukunft. (David)

Ich hatte ein Gesicht und Hände wie du und musste mein eigenes Grab schaufeln. ( Lucie)

Erinnern ist immer nur die halbe Wahrheit. (Julia)

Und trotzdem Menschen (Tobias)

Feuer nicht mit Feuer bekämpfen (Stefan)

Anteilnahme, Empathie, Mitgefühl (Claudia)

Die Opfer haben sich widersetzt, und wir? (Sabine)

Was hättet ihr getan? (Clara)

Dr. Robert Streibel, Historiker, Publizist, Direktor der Volkshochschule Hietzing in Wien.

Rede anlässlich der Eröffnung der Installation von Katarina Veldhues / Gottfried Schumacher am 22.11. 2008. STELLVERTRETER ˆ eine Projektion auf der Fassade der Justizanstalt Stein. Die Anonymität der Ermordeten lässt nicht einmal die Würde des eigenen Angesichts und des Namens. An einen Menschen erinnern ˆ so ist es Brauch auf vielen Friedhöfen in Österreich ˆ ist die bewusste und sorgfältige ≥Hinterlassenschaft„ einer Fotografie, damit sein ≥Angesicht„ im Gedenken bleibt und er den Lebenden persönlich ≥angesichtig„ wird. Das Projekt STELLVERTRETER ist vor allem der Versuch der Wiederherstellung der Würde und des Gedenkens der damals ermordeten Menschen in Stein und Hadersdorf am Kamp mit dem Einsatz des ≥stellvertretenden„ Bildes. Mehrere Dutzend Personen haben ihre Portraits für das Projekt zur Verfügung gestellt. Diese sind Bestandteil einer mehrteiligen Projektion auf die Fassade des historischen Gebäudeteils der Justizvollzugsanstalt Stein.


Categorised as: Artikel