Robert Streibel

Menschenliebe im Frisiersalon

Lizzie Dorons Roman ≥Ruhige Zeiten„ ist eine aufwühlende Geschichte von Überlebenden der Shoa in Israel

Robert Streibel für die "Furche"

Es gibt Bücher, die sind eigentlich Filme, die Enge der Buchdeckel weicht dem Weitwinkel, die Erzählerin ist mehr als eine Regisseurin, nämlich eine Zauberin und so ist plötzlich überall Leben, auch wenn das nicht immer gleich auch Bewegung sein muss. Es gibt Landschaften, die bestehen aus Menschen und es gibt eine Geschichte, die immer wieder neu erzählt werden muss. Der Roman ≥Ruhige Zeiten„, der in Tel Aviv lebenden Lizzie Doron, ist ein Filmbuch, die Menschenlandschaft ist in diesem Fall Israel und die nicht endenwollende Geschichte ist jene der Entwürdigung und Vernichtung der Juden und das Weiterleben danach. Die Trauer rahmt die Geschichte ein. Leale hat als Mädchen versteckt in einem Erdloch in Polen überlebt, kam als Waise in einen Kibbuz nach Palästina und heiratet den Schneider Srulik. Als dieser stirbt, findet sie eine Heimat im Frisiersalon von Sajtschik und ihre ältere Freundin Rosa erschließt ihr die unbekannte Welt der Bildung.

Das ganze Leben passt in einen Frisiersalon, wenn er von Sajtschik geführt wird, der ≥a mentsch gewesen sei„ und bei dessen Tod eigentlich Gott hätte weinen müsste. Sajtschik ist ein besonderer Mensch und so stirbt er gleich zwei Mal: Am Beginn und am Anfang des Buches und seine Maniküre Leale, die so etwas wie ein Lebensmensch für ihn war, trauert um ihn. ≥In meinen Ohren hörte ich Sajtschiks Schritte, vor meinen Augen sah ich seinen weißen Anzug, die Fliege und die glänzenden Schuhe, in meiner Nase hing noch der Duft von Brillantine und von seinem Parfüm und auch der Geruch seiner alten Ledertasche. (….) Ich erschrak vor Furcht, dass Sajtschik mir verloren ginge.„ In Spiralen vollzieht die Autorin die Erzählbewegung und die langsame Annäherung an die Geschichte aller Beteiligten.

Unter dem Brennglas der Shoa erscheint jede menschliche Regung in ihrem Kern, schärfer und klarer als sonst. Die Verzweiflung ist unerträglicher, die Hoffnung stärker und die Liebe so, als wäre die ganze Welt eine Opernbühne.

Wer kommt aller in diesen Frisiersalon? Da ist Herr ≥Resistance„, der wie der Arzt Dr. Wohlmut eine heimliche Autorität ist, da ist Frau Ida, die immer sterben will. Sie hat ihre ganze Familie verloren und musste auch als Kind mit ansehen wie das ≥jüdische„ Pferd erschossen wurde. Immer will sie nur in den Himmel kommen, weil dort das Pferd schon auf sie wartet. Da ist die alte Frau, die alles Erlebte ihrem Hund erzählt. Da ist eine verrückte Opernsängerin und so glauben manche im Viertel eine Oper sei der Auftritt von Verrückten. Allen wird im Frisiersalon Ehre erwiesen wie auch den spielenden Kindern vor dem Salon. Alle Verrücktheiten und Sonderheiten werden von allen besprochen und der Tratsch der alten Frauen ist fast zu hören, aber gleichzeitig auch das Mitgefühl zu spüren. Verletzte leben in diesem Viertel und sie schaffen sich eigene Gesetze. Als der Milchmann als Kapo eines Konzentrationslagers erkannt wird, beschließen alle, dass er weiterleben, die Milch jedoch nur bis zum Morgengrauen austragen soll, sich aber nie öffentlich zeigen darf. Damit er ein Auskommen hat und lange über das Nachdenken kann, was er getan hat, bestellen alle bei ihm die Milch.

Alle müssen den Tod besiegen, ein aussichtloses Unterfangen. Höchstens in und mit der Erinnerung ist dies möglich, doch um die Erinnerung kämpfen die Bewohner des Viertels und bekämpfen sie gleichzeitig auch. (≥Ich hatte das Gefühl, daß mein Gehirn wie ein verdorbener Klebstoff war, an dem nur Unsinn hängen blieb, irgendwelche Sachen von früher, Wunden und Schmerzen„).

Eine große traurige Menschenliebe vor dem Angesicht des großen und gewaltigen Todes schimmert durch diese Geschichten.

Ruhige Zeiten Roman von Lizzie Doron Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005 176 Seiten, geb., Euro 16,80


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