Robert Streibel

Michael Gehler: Zeitgeschichte zwischen Europäisierung und Globalisierung

Fünfzehn Thesen lassen sich formulieren:

1. Was Zeitgeschichte bedeutet, ist nicht immer klar; sie steht jedenfalls nach wie vor im Schatten nationaler Paradigmen. Thematisch ist eine tendenzielle Rückzugsbewegung nationaler Aspekte festzustellen. Dieser erkennbare Trend ist aber nicht besonders stark; das Nationalstaatliche als Bezugspunkt dominiert weiter.

2. Parallel dazu ist eine partielle Hinwendung zu europäischen und transnationalen Themen bemerkbar. Mit der Multiplikation der Fragestellungen bis zur Beliebigkeit und Unüberschaubarkeit geht allerdings auch fehlender Mut zu zusammenfassenden Thesen einher.

3. Die überwiegend national konstituierten – vielfach staatlich institutionalisierten – Zeitgeschichten nehmen sich wechselseitig nur wenig wahr. Ein System „kommunizierender Röhren“ muss sich erst noch herausbilden, wobei die neuen Informationsmedien längst Voraussetzungen dafür bieten.

4. Der Bezug zu nationalen Debatten ist eng; Zeitgeschichte ist häufig Reflex auf politische Diskurs-Konjunkturen in den jeweiligen Staaten. Die Forschung meldet sich dabei häufiger als früher in den Medien zu Wort und bezieht auch mehr Position.

5. Identitäten gerade von jungen oder „verspäteten“ Nationen (Deutschland, Italien, Österreich) hängen auch vom Intensitätsgrad öffentlicher Debatten über Zeitgeschichte ab. Dies hat auch Wirkungen auf andere Geschichtsdisziplinen.

6. Die vormals neutralen Kleinstaaten, aber auch die NATO-Länder Frankreich und Italien, haben sich erst in den letzten 15 Jahren nationalen Geschichtsmythen zugewendet. Auch der Kalte Krieg hatte vieles zu Tabuthemen gemacht, die jetzt wieder „entdeckt“ werden.

7. Die Beschäftigung mit strittigen Themen wie dem Sinn und Wert der Neutralität, [82] staatlicher oder individueller Kollaboration mit dem Nationalsozialismus und der Ambivalenz des Verhaltens (Täter-Opfer-Debatte, Anpassung, Opposition, Resistenz und Widerstand) in der NS-Diktatur und den von ihr besetzten Ländern sowie dem Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus nach 1945 haben ländervergleichende Studien, die Komparatistik, [83] nicht unbedingt gefördert, sondern vielfach zur Festschreibung nationaler Engführungen beigetragen und die Europäisierung der Zeitgeschichte mitunter sogar blockiert.

8. Mit der Entmythologierung nationaler Geschichtsikonen (Antifaschismus, Résistance, Opferthesen, Neutralität etc.) ging in einigen Ländern – nicht unbedingt in Deutschland – eine sinkende Neigung zum Moralisieren und eine deutlichere Hinwendung zur Historisierung einher. Im Unterschied zum beispiellos untersuchten „Dritten Reich“ gibt es zu anderen europäischen autoritären Regimen und Diktaturen noch erhebliche Rückstände in der Forschung.

9. Die Angst vor nachlassender Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus oder einer Relativierung des NS-Regimes führte nicht nur zur Fixierung, sondern teilweise auch zur Paralyse der Zeitgeschichte – eine Gefahr, die hinsichtlich ihrer negativen Wirkungen ernster genommen werden sollte als die Sorge, dass die Schatten der NS-Verbrechen verblassen könnten. [84] Diese „Gefahr“ ist aufgrund der medialen Dauerthematisierung und der Präsenz des Holocausts im kollektiven Gedächtnis Europas relativ gering.

10. Eine ausschließlich oder überwiegend mit dem Nationalsozialismus befasste Zeitgeschichte bleibt nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch rückständig; eine gegenwartsorientierte Zeitgeschichte kann an den genannten neuen Herausforderungen nicht vorbei. Diese müsste sich z.B. extremistischen Bewegungen nach 1945 oder dem Rechtspopulismus in seiner europäischen Dimension widmen und damit dieses Feld nicht allein der Politikwissenschaft überlassen.

11. Die italienische und französische Zeitgeschichte weisen keinen signifikant höheren Internationalisierungsgrad auf als die österreichische und schweizerische, wie überhaupt die jeweilige nationale Zeitgeschichte stärker mit sich selbst beschäftigt und „nach innen“ ausgerichtet ist. Bedingt durch ihren Status als Kolonialmächte gibt es in Frankreich und Italien allerdings mehr Bezüge nach außen, so z.B. zur (nord-)afrikanischen Region, im Falle der französischen Geschichtsschreibung auch zur asiatischen Welt (z.B. Indochina).

12. Großbritannien hingegen bietet als historische Weltmacht ein weites Feld globaler Beziehungen und Politik. Naturgemäß ist die britische contemporary history wie selbstverständlich mit den imperialen Mächten, den internationalen und globalen Beziehungen sowie weltwirtschaftlichen Konstellationen und damit auch mit vergleichenden Perspektiven [85] mehr konfrontiert als andere, auf territorialstaatliche Nationen fixierte Zeitgeschichten. Zuletzt gab es auch eine stärkere Hinwendung nach Europa.

13. Eine Europäisierung der europäischen Zeitgeschichten ist bisher weder inhaltlich-thematisch im Sinne des Vergleichs noch theoretisch-methodisch im Sinne einer Europäistik [86] auf breiter Ebene gelungen. Sie ist zwar in Herausbildung begriffen, wird aber von der Mehrheit der Forscher noch nicht praktiziert. Es überwiegen nationale Perspektiven auf und Zugänge nach Europa.

14. Auf politikgeschichtlicher Ebene gibt es zwar additive, aber wenig gesamtgeschichtlich-integrierende Ansätze. Wenn man so will, herrscht eine Art Intergouvernementalisierung der europäischen Zeitgeschichtsschreibung vor, die von vergemeinschafteter, d.h. einer Supranationalität der Zeithistoriographie noch weit entfernt ist. Die Dinge sind allerdings in Bewegung geraten, und neue Trends brechen sich Bahn, was ein Ergebnis des Vordrängens jüngerer Generationen ist.

15. In Europas nationalen Zeitgeschichten wirken die Folgen einer anhaltenden doppelten Nationalisierung nach: Sie sind sowohl inhaltlich (Themen) als auch arbeitsorganisatorisch (Netzwerke, Theorien und Methoden) deutlich mehr national fokussiert als europäisch ausgerichtet. Größere Befreiungsschläge wären hier wünschenswert – dies nicht zuletzt im Hinblick auf die angestrebte zusätzliche europäische Identität.


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