Robert Streibel

Nur im Traum eine Chance?

Eugenie Schwarzwald bekommt Gesellschaft beim Lesen von Florian Illies „1913“.

Ich bin gespannt. Sie sicherlich auch. Manches haben wir sicherlich gemeinsam. Sie sind gespannt weil sie nicht wissen was sie erwartet. Das ist wie am Beginn eines Buches. Wenn Sie begonnen haben zu lesen wollen Sie unbedingt wissen wie es weitergeht, nicht nur bei einem Krimi. Das haben wir gemeinsam, Sie sind gekommen und ich kann mich mit ihnen momentan nicht so beschäftigen. Ich habe ein Buch begonnen zu lesen. Der Unterschied zwischen uns: Sie lesen weil Sie wissen wollen wie es ausgeht, ich lese, weil ich wissen will, ob ich vorkomme. Ich meine nicht das, was sie unter Identifikationsfigur verstehen, was ich meine ist mehr, es ist immerhin mein ICH.

Leisten Sie mir Gesellschaft beim Lesen. Ich garantiere ihnen selbst das wird für sie ein Gewinn sein. Ich bin ein Gewinn, ein Schatz. Das haben sie jetzt nicht erwartet. Keine falsche Bescheidenheit, ich weiß was ich wert bin. Dazu brauche ich keinen 8. März, die Emanzen mit denen hatte ich es nicht so. Obwohl manche in Wien gemeint haben, die Töchter kann man nicht in meine Schule schicken, da lernen sie denken und werden aufmüpfig. Ich weiß was ich wert bin. Und wenn das jemand stört, da kann ich ihm oder ihr nicht helfen.

Ich bin gespannt auf welcher Seite ich vorkomme. Es war immerhin mein Jahr. Jedes Jahr war mein Jahr, durch mehr als ein Jahrzehnt, immer etwas Neues. Ich muss teil dieses Panoramas sein, das in diesem Buch gezeichnet wird, Wien ohne mich – nicht auszudenken, naja nicht dass ich das Zentrum war, aber sicherlich ein Kristallisationspunkt.

Im Jänner stehen die Zeichen in diesem Jahr schon gut in dieser Chronik. Else Laske-Schüler wird erwähnt, sie hat doch tatsächlich nach ihrer Trennung kein Geld für die Schule ihres Sohnes Paul und Karl Kraus hat ihren Aufruf veröffentlicht wo Prominente um Unterstützung für sie bitten. Selma Lagerlöf, Karl Kraus und Arnold Schönberg haben diesen Aufruf unterschrieben. Selbstsüchtiges Weib, würde mir doch nie einfallen, für sich selbst zu betteln. Da sind wir zwei Georfeigte. Ich und Arnold, also Schönberg. Ich bekam von Else Lasker-Schüler eine Ohrfeige in Berlin, weil ich ihr ihren Sohn entfremdet haben soll, aber das ist erst später und Arnonld bekommt eine Ohrfeige vom Oskar Strauss im Konzertsaal, in ein paar Monaten wird das geschehen im Jahr 1913. Das ist der Vorteil rückblickend aktuell zu sein. Ich bin gespannt ob ich vorkomme in disem Jahr. Drei die mit mir verbunden waren kommen bereits im Jänner vor, das ist ein gutes Vorspiel.
Karl Kraus und seine Freundin werde ich in diesem Jahr zum Souper einladen und Arnold, der jetzt nach Berlin geht um zurückzukomme, um georfeigt zu werden, dem habe ich die Räumlichkeiten meiner Schule für sein Konservatorium zur Verfügung gestellt. Und als er seinen 50er gefeiert hat, da war ich auch ganz wichtig.

Und dann auf Seite 27 wieder ein Bekannter mit dem ich verkehre, Rainer Maria Rilke, wenn das keine Häufung ist. Und natürlich Freud, Wien in diesem Jahr ohne Freud, nicht auszudenken. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, ob ich mit dem Professor irgendetwas zu tun hatte, naja mein Leben hätte schon einiges hergegeben für ein paar Jahre auf der Couch, aber liegen und reden und nichts zu tun, das ist nicht meine Sache, dafür hatte ich keine Zeit, aber die Sophie, die war in meiner Schule.

Die Sophie Freud, also wie ist da das Verhältnis, die Verwandtschaft? Helfen sie mir! Ich denke so schnell schalten sie nicht, sie glauben dass ist jetzt eine rhetorische Fragen gewesen. Wozu sind sie überhaupt da? Gut ich will nicht so sein, sie können mir in diesem Fall nicht helfen, sie können aber bleiben, ich brauche sie sicher heute noch.

Im Februar ist die Chronik wieder in Wien, in der Zentrale der Moderne anno 1913. Bei der Aufzählung der Hauptdarsteller wieder alte und neue Bekannte. Adolf Loos, klar, der hat meinen Salon, mein Direktionszimmer gestaltet, sein Haus, das den Kaiser so aufgeregt hat, ist nur wenige Schritte von meiner Schule entfernt und natürlich hat er auch bei mir unterrichtet der Loos und zu Gast in der Josefstädterstraße war er natürlich auch. Und dann der Kokoschka, der hat bei mir Zeichnen unterrichtet, hatte natürlich keine Lehrbefähigung, aber er war doch ein Genie, das hat den Unterrichtsminister nicht beeindruckt.

Hat sich das heute geändert? Sie müssen es ja wissen. Wie ist das mit dem Schulsystem. In meiner Schule waren sie nicht, da wären sofort einige vorlaut gewesen, ich hätte das nicht als vorlaut bezeichnet natürlich, sondern als lebhaft, diskutierfreudig. Da sie so still sind, muss ich schließen, dass das Schulsystem nicht unbedingt besser geworden ist.

Also mich hätte der Florian schon erwähnen können, ich hätte als Hauptdarstellerin in der Zentrale der Moderne gut gepasst. Wird schon noch kommen. Einen guten Stil hat er dieser Illies, das muss ich ihm lassen und Witz hat er auch, das schätze ich auch in meiner Gesellschaft.

Noch immer im Februar, jetzt werde ich gleich erwähnt werden. Die Alma, das neue Weib vom Oskar, Kokoschka natürlich, für ihn ist sie das Urweib, sie kaum verwitwet. Noch nicht einmal ein Stein ist auf dem Friedhof gesetzt worden, bei Juden geschieht das erst nach einem Jahr, aber der Mahler, der hat auch geglaubt, er kann seine Herkunft durch Taufe ungeschehen machen, die Wiener, die riechen das aber, denen ist das wurscht, ich habe mich darauf verlegt, meine Herkunft einfach nicht zu erwähnen.
Also die Alma, frisch verwitwet fährt auf den Semmering, um sich von den Ländereien Mahlers eine auszusuchen, auf dem sie das Liebesnest für sich und ihren Oskar bauen lassen wird.
Auf der nächste. Seite wird jetzt meine Schule erwähnt werden, die Semmeringschule, mein großes Projekt, Adolf Loos hat den Plan gezeichnet, eine neue Art der Schule, etwas ganz Neues, nicht nur lernen sondern auch Natur und selbst tätig werden zu können.

Wie bitte?

Was habe ich da gehört? Wer hat da gemeint, ich hätte den Zeitgeist gut antizipiert und im grossen Friedensprojekt der Erziehung in dem Jugendliche aller Völker gemeinsam erzogen werden sollen, auch militärische Töne angeschlagen.

Deborah Holmes schreibt kritisch über das Projekt: Was aber erst recht aufstößt, wenn man an das >>Kinder aller Völker, aller Klassen, verschiedener Lebensverhältnisse und beider Geschlechter<< des Bühne-Artikels von 1931 denkt, ist der militaristische Unterton des Werbeprospekts von 1913.
Auf der konstituierenden Versammlung des >>Vereins zur Errichtung einer Schul- und Erziehungsanstalt auf dem Semmering<< 1912 begrüßte dessen Vorsitzender, Universitätsprofessor Berthold Hatschek, die Gründung als >>kulturelle Tat des Friedens<<. Doch der Schulprospekt  warb damit, dass die >>Freilufterziehung<< jeden Schüler ganz buchstäblich kampftauglich machen würde: >>Seine Sinnesorgane sind frisch und scharf, das Auge, beständig mit freien Entfernungen vertraut, hat seine natürliche Akkomodationsfähigkeit nicht verloren und dient beim Lesen wie beim Schießen mit gleicher Sicherheit.<< (Seite 164-165)

Daneben wird regelrechtes Exerzieren und Marschieren geübt werden […] Dem Zögling wird deshalb auch – was nicht gering zu schätzen – die Erfüllung der dereinstigen Militärpflichten leicht fallen. Die Semmeringschule zielte offenkundig darauf ab, aus ihren Schülern Bürger >>des einigen Europa<< zu machen, wie Robert Scheu es an anderer Stelle genannt hatte.

Ist Deborah da? Deborah? Deborah Holmes?  Sie ist nicht da? Ich höre also Stimmen, sie schreibt das in ihrer Biographie über mich, wird schon stimmen wenn sie es sagt.

Also jetzt wird Florian Illies in seinem Buch 1913 mich und mein Schulprojekt erwähnen. Nein nix von mir. Albert Schweizer, der März, dann Berlin, dann Albert Einstein und Ludwig Wittgenstein, nichts von mir.

Im März lese ich Rilke hat Schnupfen, von mir nix. Also das ist wirklich stark.
Bei der Erwähnung von Robert Musil im März schöpfe ich wieder Hoffnung. Drei grosse Romane werden 1913 begonnen, zumindest in Notizen von Musil, Proust und Joyce, immerhin bei einem Roman komme ich vor, Robert Musil, hat die Erfahrungen mit mir in der person der Diotima verarbeitet, nicht eins zu eins, natürlich, aber ich bin erkennbar ein für alle Zeiten. Das kann mir keiner nehmen, das würde ich dem Illies auch ins Stammbuch schreiben, wenn er eines hat.

Glauben sie an Geister? Ich muss daran glauben, ich bin doch jetzt hier, machen wir jetzt einen gemeinsamen Versuch, ich glaube es ist der erste kollektive  Versuch.

Lassen sie ihre Bedenken beiseite, glauben sie an Geister.
Jetzt.
Für 15 Sekunden, wünschen wir Florian Illies heute Nacht einen schlechten Traum. Ich soll ihm heute Nacht im Traum erscheinen und er soll sich ein wenig fürchten, dass er mich vergessen hat.
Versuchen wir es.
Jetzt, Florian Illies möge heute Nacht von Eugenie Schwarzwald träumen und morgen früh ein schlechtes Gewissen bekommen, weil er sie in seinem Buch 1913 nicht erwähnt hat.
Jetzt der Countdown läuft.

Ich wills wissen, ich lese schneller, im Mai die Affäre Redl und die Reporterlegende Egon Erwin Kisch, den werde ich dann 1918 aufpäppeln wie den Musil auch.

Im Juli dann Käthe Kollwitz, die war bei uns im Hotel Seeblick am Grundlsee, im Juli 1913 macht sie in Tirol Urlaub, auch dort regnet es. Von mir natürlich nichts.
September, Oktober: Kraus, Rilke, Werfel, aber ich bin ausgeblendet. Im November: Wieder Adolf Loos und auch sein Terrassenhaus, das Haus Scheu wird erwähnt. Die Scheus, das ist mein Bekanntenkreis, ich war natürlich in diesem Haus und die Helene Scheu-Riesz, die ist doch eine Seele mit ihren Kinderbüchern.

Im November und Dezember dann nochmals Musil, der an seinen Notizen sitzt und Florian Illies fasst das so zusammen: Dann nähert er sich von Ulrich kommend seiner Heldin Diotima, der begehrten Schönheit, der Frau voller Eigenschaften“ Schön geschrieben, obwohl man merkt den Journalisten im Illies. Aber jetzt am Höhepunkt, jetzt könnte er mich noch erwähnen. „Etwas stand offen, es war wohl die Zukunft, jedenfalls waren es ein wenig auch ihre Lippen.“ Musil via Illies, jetzt hier und wo bin ich?
Männer, sag ich nur.

15 Sekunden sind zu wenig, jetzt noch eine Draufgabe, denken wir länger an diesen schlechten Traum für Illies, aber sonst nix Böses bitte, ich möchte ihm wirklich nix Böses wünschen. Ist ja noch ein junger Mensch, hat noch das Leben vor sich, Jg 1971. Wenn ich noch meinen Salon hätte, ihn würde ich einladen, sicherlich. Und ich bin sicher, er wird auf mich stoßen früher oder später, nach dem Traum oder auch sonst.

Also jetzt: Denken wir gemeinsam während wir ein paar Takte „Verklärte Nacht“ hören von Arnold Schönberg.
Vielleicht sag ich ihnen später mehr über die Verbindung dieses Musikstückes zu mir und zur Semmeringschule.

Robert Streibel, März 2013
Text geschrieben für die Präsentation in der Arena Bar am 7.3.2013

 


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