Robert Streibel

Provozierend fair

Spannend erläutert der Journalist Hellmut Butterweck, warum im Nürnberger Prozess der Griff nach Sternen des neuen Völkerrechts missglückte, aber der Prozess der Richter Zukunft hatte.

Artikel für die „Presse“

Hellmut Butterweck: Der Nürnberger Prozess. Eine Entmystifizierung. Wien: Czernin Verlag 2005 448 Seiten, geb., Euro 27,-

Die besten Einleitungen schreibt das Leben. Im Zug von Wien nach Salzburg zu einem Yad Vashem Seminar, lese ich das Buch ≥Der Nürnberger Prozess. Eine Entmystifizierung„ von Hellmut Butterweck. In St. Valentin steigt ein älterer Mann ein, freundliches Gesicht, rundliche Statur. Kaum ist der Zug abgefahren richtet er bereits eine Frage an mich: ≥Sind sie an der Thematik juristisch oder politisch interessiert?„ Mein Outing als Zeitgeschichtler stachelt ihn an: Das war doch eindeutig Siegerjustiz und überdies fragwürdig. Sei er denn der Meinung, dass die Angeklagten unschuldig gewesen wären, dass ihnen Unrecht widerfahren sei? Das würde zu weit führen, meint er und ich müsse das ja so sehen, durch meine Erziehung und mein Alter, sprich durch die ≥Nachkriegsgehirnwäsche„.

In wenigen Wochen jährt sich der Nürnberger Prozess, der auch als Mutter der Kriegsverbrecherprozesse bezeichnet wird. Ein Jubiläum für Festreden, für aktuelle Bezüge und natürlich auch für eine entsprechende Publikation. Warum ein neues Buch, wo es doch keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt? Der Titel ≥Eine Entmystifizierung„ ist verheißungsvoll.

Die These von Hellmut Butterweck ist ungewöhnlich. In Nürnberg wären zwei Prozesse über die Bühne gegangen. Ein politischer Prozess wegen Verbrechen gegen den Frieden und ein Mordprozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Anklage wegen der Führung eines Angriffskrieges trat jedoch mit Fortdauer des Verfahrens in den Hintergrund. ≥Tatsächlich wurde in Nürnberg niemand aufgehängt, der nicht in die Mordtaten des NS-Regimes verstrickt war.„ Der Aufwand, den persönlichen Anteil der Angeklagten am Zweiten Weltkrieg nachzuweisen mag für die Urteile letztlich unerheblich gewesen sein, war jedoch für die Zeitgeschichte und die politische und kollektive Bewusstseinsbildung von besonderer Bedeutung.

Gerade angesichts der revisionistischen Literatur und ihrer noch lebenden Fossilien ist jede apologetische Darstellung fehl am Platz und kontraproduktiv, die über die Schwächen des Verfahrens hinwegsieht, so dass zum Beispiel viele Beschwerden der Verteidiger berechtigt waren. Butterweck bezieht diese Kritik mit ein und versteht es, die verschiedenen Lesarten in der Tradierung zu dokumentieren, so zum Beispiel die Vorgeschichte des Prozesses, der bereits eine Alternative darstellte, hatte doch Winston Churchill für eine ≥politische Aktion„ plädiert: Gemeint war die Liquidierung der Verantwortlichen unmittelbar nach ihrer Festnahme. Wenn auch Onkel Joe, alias Josef Stalin, in Teheran auf die Justiz eines Erschießungskommandos einen Toast ausgebracht hatte, war es Churchill, der lange an seiner Lösung festhielt.

Der Stil des Buches ist für historische Publikationen ungewöhnlich, denn dass Geschichte spannend erzählt werden kann, ist eher eine Traditionslinie der britischen und amerikanischen Historiker. Im Sinne des volksbildnerischen Projektes dieses Buches ist das umfangreiche Kapitel ≥wo ins wo auf der Anklagebank„ eine notwendige Erstinformation.

Dass Butterweck die Eröffnungsansprache von Richter Robert Jackson auch auf die späteren Kriege von England und Frankreich (Suez-Krieg) und Amerika (Vietnam Krieg) bezieht, zeichnet ihn als streitbaren Geist aus. Ein naheliegender Querverweis, hatte Richter Robert Jackson in der Eröffnungsansprache doch gemeint: ≥Denn wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, Bedeutet ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen.„

Die Richter von Nürnberg standen nicht mit beiden Beinen in den Wolken eines neuen Völkerrechts. ≥Sie standen auf dem festen Boden des Strafrechts. Der Prozess der Richter, Europas Sache damals und noch viel mehr heute, war kein Griff nach den Sternen, sondern handfeste Suche nach gerechten Urteilen.„


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