Robert Streibel

Stille Post zwischen den Generationen

Familiengedächtnis und Nationalsozialismus. Eine lesens- und bedenkenswerte Studie von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschnugnall.

Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschnugnall. ≥Opa war kein Nazi„. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main. Fischer Taschenbuch Verlag 2002. 246 Seiten.

Robert Streibel für Zeitgeschichte

Die Aufklärung über den Nationalsozialismus ist ein aussichtsloses Unterfangen, solange in den Familien diese Zeit verharmlost wird. Gerade weil die Aufklärung in den letzten Jahren so erfolgreich war, sind die Betroffenen gezwungen eine Vergangenheit zu konstruieren, in der ihre eigenen Verwandten eine Rolle spielen, die mit den Verbrechen nichts zu tun hat. So könnte ein Ergebnis der Studie ≥Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis„ von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall zusammengefasst werden.

Wissen ist eine Sache, wie dieses Wissen verwendet wird jedoch eine andere. Von Raul Hilberg stammt die Feststellung, dass neben dem Lexikon im Wohnzimmerregal das Fotoalbum steht. Das Verhältnis zwischen kognitiver und emotionaler Dimension des Geschichtsbewusstseins bestimmt diese Untersuchung. Die intergenerationelle Kommunikation funktioniert offenbar wie ein Filter, der hilft, Mord, Ausgrenzung und persönliche Beteiligung auszublenden. In 40 Familien wurden 182 Einzelinterviews in Drei-Generationen-Familien gemacht. Das Interesse lag daran, ≥welche Wirksamkeit das Gesagte im Weitergabeprozess zwischen den Generationen entfaltet.„ Geschichte und Geschichten verändern sich wie das bereits beim Kinderspiel ≥Stille Post„ bekannt ist. Dem Autorenteam gelingt es Muster dieser Veränderung zu definieren und dies für ihre Leser nicht bloß theoretisch zu begründen, sondern an Hand von Zeitzeugengesprächen und ausgewählten Textbeispielen zu belegen. Dadurch wird diese Studie zu einem Muss für all diejenigen, die mit Erinnerungen von Zeitzeugen wissenschaftlich und pädagogisch arbeiten. Geschichten, die erzählt werden und die somit auch eine Erinnerungsgemeinschaft in der Familie bilden, müssen ≥offen und fragmentarisch sein, also Raum für Ergänzungen und Hinzufügungen durch die Zuhörer bieten„. Mit dem Phänomen der ≥Wechselrahmung„ beschreiben die Autoren den Vorgang, dass ≥Zeitzeuginnen und ˆzeugen aus der Tätergesellschaft sich Darstellungsformen bedienen, die aus dem Bild- und Assoziationsraum des Holocaust stammen, um ihr eigenes Leiden zu illustrieren.„ Festgestellt werden konnte weiters die Tendenz zu einer ≥kumulativen Heroisierung„: Aus Mitläufern werden dabei Widerstandskämpfer, aus aktiven Exekutoren nationalsozialistischer Politik kritische Geister, aus Profiteuren Opfer des Regimes. Gehört wird also nur was gehört werden will und die geschilderten Taten werden lediglich vom Tonband aufgezeichnet nicht aber vom Familiengedächtnis. Wieweit die mediale Aufarbeitung durch Spielfilme auch die persönlichen Erinnerungen prägte kann ebenfalls an Hand beieindruckenden und bestechenden Beispielen gezeigt werden.

Bleibt die Ernüchterung am Schluss, ≥dass in deutschen Familien ein Bewusstsein über die nationalsozialistische Vergangenheit tradiert wird, in dem die Vernichtung der europäischen Juden nur als beiläufig thematisiertes Nebenereignis vorkommt. (…) Der Holocaust selbst existiert nur auf Nachfrage ˆ er hat seinen Ort in dem kognitiven Universum dessen, was man über die Geschichte weiß, nicht in Familiengeschichten.„


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