Robert Streibel

Das Schweigen zwischen Opfern und Täter

Artikel für das Programmheft "Kristallnacht – Zeitzeugen berichten" im Volkstheater 5. 11.2005

Robert Streibel

Eine Geschichte, aber zwei Welten waren es, in denen Opfer und Täter nach der Befreiung 1945 lebten. Die einzige Verbindung war zumindest für einige Jahre das Schweigen, ein Schweigen, in das sich beide Gruppen aus unterschiedlichen Gründen flüchteten. Es war dies eine Möglichkeit, um sich ihrer Vergangenheit nicht stellen zu müssen, für die einen weil sie es nicht ertragen konnten, für die anderen weil ihnen das Unrechtsbewusstsein fehlte. Was die Akteure Millionen Menschen in der Zeit zwischen 1933 beziehungsweise 1938 und 1945 angetan hatten wollten/ konnten diese nicht erkennen. Am ersten Tag des Nürnberger Prozesses als den 22 Angeklagten nach Verlesung der Anklageschrift die Frage gestellt wurde, ob Sie sich für schuldig oder nicht schuldig erklären, meinte als erster Hermann Wilhelm Göring ≥Ich bekenne mich im Sinne der Anklage unschuldig„, wie Hellmut Buttereck in seinem Buch ≥Der Nürnberger Prozess. Eine Entmystifizierung„ vermerkt. Rudolf Hess beschränkte sich auf ein ≥Nein„. Hilmar Schacht sieht sich in ≥keiner Weise schuldig„, Franz von Papen ≥keinesfalls„, Sauckel fügt dem hinzu: ≥vor Gott und der Welt und vor allem vor meinem Volk nicht schuldig„, Jodl kann alles was er getan hat ≥reinen Gewissens vor Gott, vor der Geschichte und meinem Volke verantworten„. Alle anderen erklären sich nicht schuldig, nicht schuldig im Sinne der Anklage.

Nicht viel anders war es beim 1. Frankfurter Auschwitzprozess wie Werner Renz in einem Essay feststellt. ≥Keine einzige der geschilderten Untaten haben die Angeklagten geleugnet. Ihre persönliche Verantwortung stritten sie selbstredend ab. Von Schuldanerkenntnis war im Gerichtssaal nichts zu hören. Das Auftreten der SS-Zeugen vor den Frankfurter Richtern ist exemplarisch für den Umgang großer Teile der deutschen Gesellschaft mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Analog der Mehrheit der Deutschen, die jegliche Mitverantwortung an der verbrecherischen Politik des Nazi-Regimes entrüstet von sich wies und auf ihrer Nichtbeteiligung und Schuldlosigkeit beharrte, haben die vormaligen Herren über Leben und Tod in Auschwitz sich als unbeteiligte Befehlsempfänger, als Biedermänner präsentiert, die wohl ihren ≥Frontdienst„ für Führer, Volk und Vaterland an der Mordstätte versahen, hierbei aber ≥anständig„ geblieben sein wollen. Soweit sie nicht umhin konnten, ihre Teilnahme an Verbrechen einzugestehen, beteuerten sie ihre gänzliche Tatenlosigkeit, hoben hervor, bloß herum gestanden zu haben und dabei untätig gewesen zu sein.„

Wilhelm Keitel, der das Oberkommando der Wehrmacht führte und seit 1940 Generalfeldmarschall war, zeigte als einer der wenigen im Nürnberger Prozess Haltung ≥Ich kann nur sagen, dass ich grundsätzlich für alle Dinge, die aus diesen Befehlen gefolgt sind und die insofern mit meinem Namen und meiner Unterschrift in Verbindung stehen, diejenige Verantwortung trage, die sich aus meiner Dienststellung ergibt, und ferner, dass ich für die Ämter und Abteilungen des OKW, die mir unterstellt waren, die Verantwortung trage, soweit sie rechtlich und moralisch begründet ist.„

Die Täter fühlten sich in der Regel nicht schuldig und um sich die Frage nach Tätern gar nicht stellen zu müssen, wurde der Nationalsozialismus zur Naturkatastrophe umgedichtet, die einer Flut gleich über das kleine unschuldige Österreich hereingeschwappt sei und eine »Ruinenlandschaft« (oder austauschbar: ein »Trümmerfeld«) hinterlassen habe, wie die Historikerin Margit Reiter feststellt. Dieser Methaporik bediente sich selbst Bundeskanzler Schüssel noch im Jänner 2005 als er zwar selbstkritisch meinte, Österreich sei nie eine »Insel der Seligen« gewesen, sondern »alle politischen Beben auf diesem Kontinent„ hätten auch uns erreicht« und überdies wären »wir manchmal sogar beinahe das Epizentrum« davon gewesen.

Doch wie war die öffentliche Stimmung für die Opfer? Bereits im Sommer 1945 wurde von einem österreichischen Politiker der später viel und oft beschworene Schlussstrich gefordert. Und Justizminister Christian Broda hatte als Replik auf die Kritik an Duldung und Schutz von NS-Parteigängern z.b. durch den Bund Sozialistischer Akademiker gemeint: ≥"Die Republik hat den Schlussstrich gezogen. Was 1945 recht war, muss 1965 billig sein."
Nicht viel besser war die Situation zum Beispiel für die Juden in den Niederlanden, denn bereits im Juli 1945 war in der Zeitung des niederländischen Widerstandes zu lesen, dass Juden die überlebt hatten sich in Demut üben sollten. ≥Und folgendes sollten alle bedenken, die versteckt wurden: Sie haben viel zurückzuzahlen (…) Nun wäre es angemessen, wenn sich die Juden vor Übertreibungen hüteten… Sie sind wirklich nicht die einzigen, die gelitten haben und denen es schlecht ging.„

Nicht viel anders war es bei den Tausenden Prozessen, die in Österreich missverständlich ≥Volksgerichte„ hießen und in denen Nationalsozialisten der Prozess gemacht wurde. Nach den Verurteilungen wurden die Täter sehr rasch zu Opfern, da sie mit Vermögensverfall leben mussten und ihrer staatsbürgerlichen Rechte auch nach einer Begnadigung verlustig gingen. Der österreichische Staat bemühte sich redlich, nicht um die Opfer, sondern um die Täter. Dass Wehrmachtsangehörigen die Militärzeiten früher für die Pension angerechnet wurden als den Opfern die Zeiten in den Konzentrationslagern ist nur ein Indiz. In der Ausstellung im Jüdischen Museum in Wien ≥Jetzt ist er bös der Tennenbaum„ werden klare Worte für den Österreichischen Umgang mit der NS-Tätern gefunden. ≥Wer bis 1955 noch nicht von einem Volksgericht verurteilt worden war, hatte gute Chancen ungestraft davonzukommen. Und wer bis Mitte der 70er Jahre nicht vor Gericht gestellt wurde, hatte überhaupt nichts mehr zu befürchten. 1972 erfolgte die letzte Verurteilung wegen eines NS-Verbrechens, 1975 fand der letzte NS-Prozess statt.

Der jungen Republik gelang kein Bruch mit der Vergangenheit. Keine politische Partei ergriff die Initiative, um die "Umverteilung" des Besitzes der NS-Opfer an die NS-Täter rückgängig zu machen. Die beschlossenen Gesetze blieben halbherzig, die Fristen, um eine Rückstellung zu beantragen, waren für Personen, die sich außerhalb Österreichs aufhielten nicht einhaltbar, die Ämter waren wenig kooperativ.„

Es sollte bis Anfang der neunziger Jahre dauern, bis ein Gespräch zwischen Opfern und Tätern möglich wurde. Gegründet wurde die Initiative zur Gründung der TRT-Gruppe ("To Reflect and Trust") vom israelischen Wisenschaftler Dan Bar-On. Die Gruppe bestand aus neun Nachfahren von Nazi-Tätern, sowie fünf amerikanische und vier israelische Kinder von Holocaust-Überlebenden traf sich sechs mal zwischen 1992 und 1997. ≥Das gegenseitige Erzählen der eigenen Geschichte half den Einzelnen, Verständnis für die andere Seite zu finden und konnte so Brücken schlagen. Es zeigte sich, daß es durchaus wichtige Gemeinsamkeiten gab.
Sowohl für Opfer- wie auch für Täter-Nachkommen sind die Folgen des Holocaust noch immer im Leben zu spüren, beide Seiten leiden an psychologischer und physischer Entwurzelung und auch die Schwierigkeiten, sich von den Eltern zu lösen, ist für alle Beteiligten grundlegend. Der Dialog mit dem Opfer und dem Täter in einem selbst eröffnete neue Sichtweisen, die ein schrittweises Verzeihen ermöglichen.„ In Österreich gründete 1995 der amerikanische Radiologe Samson Munn ≥The Austrian Encounter„; eine therapeutische Gruppe, die sich nicht nur die Auseinandersetzung der persönlichen Familiengeschichte von Kindern von Überlebenden und Nachkommen von Tätern.

Die Methode des ≥Story Telling„ unter psychologischer Begleitung wurde in der Folge auch auf andere Bereiche ausgedehnt und ebenfalls bei Konfliktgruppen in Israel/Palästina, Südafrika und Nordirland angewandt. Die Kritik an dieser Methode sieht die Gefahr einer falschen Harmonie und der Verschleierung der trennenden Unterschiede. Der Wunsch nach ≥Versöhnung„ wird von den Begegnungsgruppen zurückgewiesen. Die Anerkennung der Unterschiede, der gegensätzlichen Erfahrungen auf der Seite der jeweils ≥Anderen„ sei dafür eine unabdingbare Voraussetzung, und Konfrontation ein wichtiges Element der gemeinsamen Begegnungsarbeit.

Im Buch ≥Schweigen die Täter, reden die Enkel„ einem der jüngst erschienen Bücher, in dem auch über die Auseinandersetzung von österreichischen Nachkommen von NS-Tätern thematisiert wird, findet sich auf das immer wieder eingeforderte Ende der Debatte eine eindringliche Antwort in Form des Bildes des Phantomschmerz gegeben. Für die dritte Generation ist der Nationalsozialismus auf den ersten Blick schon Vergangenheit, die in manchen Fällen nur näher rückt, wenn sie in Personen konkrete Gestalt annimmt. ≥Im weitesten Sinne geht es bei Phantomschmerzen um etwas, das wehtut, obwohl es nicht sichtbar und für alle offensichtlich abgetrennt ist. Diese Schmerzen kommen unverhofft, kündigen sich nicht an, sind nicht berechenbar, lassen sich jemandem, der sie nicht kennt kaum erklären, verweisen ins Unvorstellbare oder Eingebildete und sind doch für die betroffene Person sehr real.„

Den beiden Autoren des Bandes hat sich die Vergangenheit auf die Seele geschlagen. Wie lebt es sich mit dem Wissen, dass der Großvater ein Mörder im Dienste der Judenvernichtung war? Welche Strategien müssen eingeschlagen werden, um den Schutzmantel des Schweigens abzustreifen, der über die Lücke im Stammbaum gelegt wurde ohne dass das Reden mit der Familie nicht gänzlich unmöglich wird. Claudia Brunner ist die Großnichte eines der letzten großen Mörder ist. Alois Brunner, der vielleicht noch in Syrien lebt oder 2001 gestorben ist, war für den Tod von 130.000 Menschen verantwortlich. Nachforschungen, ein Element der Geschichtswissenschaft ist eine Sache, zu der Claudia Brunner getrieben wird, die Psychoanalyse als Hilfe für die eigene Situation eine Folge unaufgearbeiteter Konflikte.
Im Zuge der Recherche stellt sich heraus, dass die Autorin als 12 jähriges Mädchen selbst Briefe nach Syrien geschrieben hat. Die Fixierung auf die Lücke, den Onkel, den Mörder droht in manchen Passagen ins Spekulative abzugleiten: Erfolgte die Gehirnhautentzündung an der Claudia Brunner bei ihrem Aufenthalt in Frankreich, zur gleichen Zeit als der Großonkel verstarb?

Warum heute nach so vielen Jahrzehnten die Geschichte des Holocaust ein Fluchtpunkt in der Geschichte bleiben muss, darauf hat der israelische Romancier Amos Oz kürzlich geliefert. ≥Sechzig Jahre später leiden Juden in Israel und woanders immer noch unter den Konsequenzen, die Deutschen hingegen überhaupt nicht. (…) Das Opfer, das im Rollstuhl sitzt, bleibt darin gefesselt. Und der Kriminelle, der ein paar Jahre im Gefängnis zugebracht hat, führt nach seiner Freilassung wieder ein normales Leben.„

Gedankensplitter zum Thema
Vergessene Opfer ˆ gefeierte Täter
Sozialpädagoge Dr. Ernst Klee, der mehrere Bücher über die NS-Euthanasie verfasst hat: ≥Der Schutz der Täter stand immer höher als Schutz der Opfer. Wir brauchen eine Kultur, in deren Mittelpunkt die Opfer stehen und wo Angehörige einen Platz haben, um trauern zu können.„

Der Unversöhnlichkeit das Wort reden?
Versöhnung ist eine Vokabel der alten und neuen Eliten und der Täterkollektive. Man sollte vielmehr der Unversöhnlichkeit das Wort reden – zumindest so lange wie hierzulande Nazis immer noch besser gestellt sind als ihre Opfer, so lange wie argentinische Militärs auf ihren Fincas schweigen dürfen, während Mütter und Großmütter nach ihren verschwundenen Kindern und geraubten Enkeln suchen, so lange wie Pinochet in Chile frei ist, politische Gefangene aber in Haft bleiben, so lange wie Südafrika kein Geld für die Apartheid-Opfer hat, aber schwachsinnige Rüstungskäufe tätigt… Andreas Rosen ist Mitarbeiter beim Weltfriedensdienst e.V. in Berlin.

Über die Diskussion in Deutschland
Im ersten Gesetzentwurf des Bundesfinanzministeriums zur Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunf"„ fomulierte die Bundesregierung: ≥Die Stiftung soll (…) ein abschließendes Zeichen für die umfassende Wiedergutmachung und Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts in der Bundesrepublik Deutschland setzen. Die bisherigen Regelungen und Leistungen ergänzend, soll sie die Diskussion über weitere Maßnahmen beenden.„ Im Klartext: Kein weiterer Cent für die Überlebenden, und: Schluss der Debatte um Schadenersatz. So stellt sich die Bundesregierung die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus vor. Jedes Gedenken verkommt jedoch zur leeren Geste, wenn es die Leiden der Überlebenden und ihre Forderungen nach Kompensation ignoriert und die für die Verbrechen Verantwortlichen straffrei stellt.

Millionenfacher Mord – kaum Konsequenzen
Doch der millionenfache Mord hatte nach der Zerschlagung der nationalsozialistischen Herrschaft für das Nachkriegsdeutschland kaum Konsequenzen. Nur wenige Täter wurden verfolgt, die Opfer blieben bis heute weitgehend ohne jede Entschädigung, insbesondere die Opfer von Massakern der SS oder der Wehrmacht. Sämtliche Forderungen gegenüber der deutschen Regierung nach Anerkennung der Verbrechen und angemessenen Entschädigungsleistungen, die vornehmlich seit der deutschen Wiedervereinigung erhoben wurden, werden von der Bundesregierung kategorisch zurück gewiesen.
Rolf Surmann, Historiker und Publizist gehörte Anfang der 80er Jahre zum Kreis derjenigen, die die Kontroverse um die "vergessenen" Opfer begannen.

Gaskammertod: eine der humansten Tötungsarten
Die Verhöhnung der Opfer hat Tradition: Bereits 1946 erstattete der Wiener Ordinarius der Psychiatrie Otto Pötzl ein Gutachten, wonach die Verabreichung von Giften eine besonders humane Tötung gewesen sei, da die Opfer in den Tod "Dahindämmern" (Eingriffe, Informationen der AG Kritische Medizin und des AK Kritische Medizin-Innsbruck, Nr. 13/14 1980). Der Wiener Gerichtsmediziner Leopold Breitenecker gutachtete 1967 in einem Prozess gegen Vergasungsärzte über den Gaskammertod: "Es ist sicherlich eine der humansten Tötungsarten überhaupt." (Ks 1/66 GStA Frankfurt a. M.). Breitenecker, Gründer der Österreichischen Gesellschaft für gerichtliche Medizin, war Mitglied diverser Ethik-Kommissionen. Sein Sohn Manfred "Institut für theoretische Physik der Universität Wien, meinte noch im Jahr 1967, "dass der Tod durch CO an sich weder qualvoll noch schmerzhaft sei" könnten die Angehörigen der Ermordeten "vielleicht als Trost" empfinden.
Ernst Klee Journalist und Historiker, der sich vor allem mit der Aufdeckung der Medizinverbrechen des Nationalsozialismus beschäftigt hat.

Erinnerung ermöglicht Identität
Erinnerung hilft, der Gegenwart einen Sinn zu geben. Erinnerung ermöglicht Identität, aber eben auch Kontinuität. Aber vergangene Ereignisse werden nicht automatisch zu Erinnerungen. Das Vergessen, das Verdrängen, ja auch das Umdeuten von Geschichte sind nur allzu gegenwärtig. Dagegen müssen wir, jede und jeder einzelne, immer wieder aufs Neue die Bereitschaft setzen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, unsere Geschichte anzunehmen und sich mit ihr bewusst auseinander zu setzen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder bei einem Festakt zum 50. Jahrestag der Gründung der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Dezember 2004

Welche ethischen Leitvorstellungen regieren
Der Philosoph Avishai Margalit diskutiert in seiner Schrift "Ethik der Erinnerung" den Sinn gesellschaftlicher Erinnerung und stellt die Frage, ob eine Gesellschaft verpflichtet ist, sich an vergangene Ereignisse und Personen zu erinnern, und wenn ja, in welcher Art und Weise. Für ihn zeigt sich dabei ein Zusammenhang mit den moralischen Grundlagen einer Gesellschaft. Die Erinnerungskultur bringt demnach zum Ausdruck, welche ethischen Leitvorstellungen eine Gemeinschaft, eine Nation als verbindlich erachtet.
Claudia Kuretsidis-Haider: Gedenken und Mahnen. NS-Herrschaft, Erinnerungskulturen und Gedächtnislandschaften nach 1945


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