Robert Streibel

Wer dreimal stirbt: Gerasimos Garnelis

„Ich habe die Hand des Toten genommen und hineingebissen, das ganze Fleisch der Hand durchgebissen.“ In einem Berg von Leichen überlebte ein griechischer Widerstandskämpfer das Massaker, das SS und SA am 6. April 1945 an den Häftlingen des Zuchthauses Stein verübten: Gerasimos Garnelis, 1921 bis 1999.

Robert Streibel
Im Kühlhaus der Bestattung in Krems liegt ein Toter, ein kleiner Mann, die Todesursache kann nur vermutet werden, 78 Jahre war er alt, mit einem abgetragenen Anzug mit Gilet und Krawatte bekleidet, seit einigen Tagen lag er in seiner Wohnung bereits auf dem Boden, bis ein Nachbar ihn vermißte und die Polizei verständigte. Am Samstag davor war er zuletzt in der Fußgängerzone in Krems gesehen worden mit einem für sein Alter und seine Gebrechlichkeit doch noch kräftigen Schritt.

Eine Grippe dürfte er übergangen haben, genau wird man es nie wissen, denn um es genau zu wissen, müßte er obduziert werden, und das kostet Geld. Was würde es auch nützen: Gerasimos Garnelis ist tot. Um den Tod bestimmen und vermessen zu können, ist Geld notwendig, um mehr über sein Leben zu erfahren, war kein finanzieller Aufwand nötig, man hätte nur fragen müssen, und er hätte sich sicher sein müssen, daß seine Geschichte gehört werden will und daß er danach keine Angst zu haben braucht. Über sein Leben und seine Kämpfe hat der griechische Kremser Gerasimos Garnelis nur selten berichtet, denn Männer wie er waren in seiner ursprünglichen wie in seiner zweiten Heimat nicht immer gern gesehen, wohl gelitten, von geehrt soll hier gar nicht die Rede sein – doch dies ist eine andere Geschichte. Wer dreimal stirbt, der hat es schwer.

Gerasimos Garnelis ist tot und hat dazu noch Glück, denn er muß nicht mehr miterleben, wie sein Ableben die Stadt beschäftigt. Er ist vielleicht mit der Illusion gestorben, daß er doch noch eine Ehrung bekommt. Die Todesursache will keiner wissen, wozu auch. Die viel akutere Frage: Wer für sein Begräbnis aufkommen soll, ist tagelang nicht geklärt. Wer soll für einen mittellosen griechischen Kremser bezahlen, damit er endgültig bei den Toten liegen kann? Grieche, (ehemaliger) Kommunist, Sozialist – wer will das heute so genau bestimmen können -, auf alle Fälle ein Gegner des Nationalsozialismus, das scheint zuviel.

Seine erste Frau, von der er bereits seit Jahrzehnten geschieden war, fühlt sich verpflichtet, die notwendigen Schritte zu unternehmen. Dabei stößt sie nicht nur auf Mitleid: „Wenn, dann nur das billigste Begräbnis. Wenn!“ Niemand fühlt sich wirklich zuständig. Seit mehreren Jahren stand ich mit Gerasimos in regelmäßigem Kontakt, und ich bin froh, ihn gefragt zu haben über sein Leben. Wer dreimal gestorben ist, für den sind schon zwei Presseaussendungen und Berichte in Zeitungen und Radio notwendig, damit er ein Begräbnis bekommt und der Bürgermeister der Stadt, Franz Hölzl, via Kleinformat „ein Machtwort“ spricht. Wenn schon nicht geehrt, so doch zumindest ein „Stadtbegräbnis“ mit einem schlichten Fichtensarg.

Gerasimos Garnelis lebte seit mehr als 50 Jahren in Krems. Angekommen war er in der Stadt an der Donau im Frühjahr 1944 in einem Viehwaggon. Das nationalsozialistische Regime hat sich bis zum Schluß die Mühe gemacht, die Unbeugsamen und die Opfer mit viel bürokratischer Mühe durch halb Europa zu verfrachten, um sie nur einem Ziel zuzuführen: sie zu vernichten. Die Chancen für die Zukunft standen in diesem Frühjahr schlecht. Doch für einen, der bereits einmal zum Tode verurteilt worden war, war selbst dieses Leben ein Geschenk. Mehr als 50mal stand Gerasimos Garnelis seitdem rund um den 6. April vor dem Denkmal direkt vor dem Tor zur Strafvollzugsanstalt Stein. „Zur Ehre unserer Antifaschisten, die als politische Häftlinge aus Griechenland in das Zuchthaus Stein gebracht, am 6. 4. 1945 von der Waffen-SS ermordet wurden“, steht in Stein gemeißelt.

Überraschend klare Worte, für jedermann lesbar, nicht in einem Ghetto der Erinnerung, sondern auf offener Straße, am Ort des Geschehens. Daß dieses Denkmal seit Jahrzehnten dort steht und alle erinnert, die lesen wollen, ist ein Verdienst von Gerasimos Garnelis. Gerasimos bekam doch sein Begräbnis und eine späte Würdigung, mit einer für ihn passenden Gedichtzeile aus „To Axion Esti“ (Gepriesen sei) des griechischen Nobelpreisträgers Odysseas Elytis: „Dein Auftrag – sprach sie – diese Welt / und ist dir ins Herz geschrieben / Erkenne sie, müh‘ dich und kämpfe – sprach sie – / Aber kein Platz für den Ruhm der Sonne, daß er durchdringt zur Zukunft / kein Tag des Gerichts, denn wir, / Brüder, sind der Tag des Gerichts / unser die Hand der Apotheose / die hinschleudert alle die Silberlinge!“ Gerasimos Garnelis hat den Auftrag, der ihm ins Herz geschrieben wurde, aufgenommen und hat gekämpft, nicht im übertragenen Sinne, sondern auch mit der Waffe in der Hand in seiner Heimat Griechenland, nachdem das Land von deutschen Truppen besetzt worden war. Er hat sabotiert, mitgewirkt an der Zerstörung von deutschen Bombern. Doch nicht nur in dieser Phase seines Lebens entsprach er den Gedichtzeilen von Odysseas Elytis, denn er war, wie viele Tausende andere auch, der Meinung, daß für eine Verurteilung der Unmenschlichkeit nicht auf ein fernes Gericht zu warten ist – „denn wir, Brüder, sind der Tag des Gerichts“. Gerasimos Garnelis hat diesen Kampf verloren, er wurde verhaftet, zum Tode verurteilt und hat doch überlebt, interniert auf einer Gefangeneninsel in der Ägäis. In einem Viehwaggon kam er nach Stein, das Konzentrationslager Mauthausen, in dem viele Griechen ermordet wurden, blieb ihm erspart. Gerasimos Garnelis hat diesen Kampf gewonnen, denn er hat überlebt, er hat das NS-Regime überlebt.

Es gibt nur wenige Menschen, die zweimal in ihrem Leben unter den Toten lagen, Gerasimos Garnelis war einer von ihnen. Schwer verwundet lag er in einem Berg von Leichen am 6. April 1945, als SS, SA-Männer und Wehrmachtssoldaten mehr als 386 Häftlinge des Zuchthauses Stein niedergemetzelt hatten. Durch ein Wunder überlebte er gemeinsam mit einer Handvoll Häftlingen im Keller des Zuchthauses – ohne ärztliche Versorgung – bis zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung. Nach dem Krieg kann er wegen des blutigen Bürgerkrieges in Griechenland nicht mehr zurück in seine Heimat. Er hilft mit bei der Vereinigung der griechischen Landsleute im „griechischen antifaschistischen Komitee“ in Österreich. In Krems organisiert er Kulturveranstaltungen, bringt die erste Opernaufführung in den Brauhofsaal, veranstaltet Boxturniere, Bälle und Konzerte, man könnte ihn ein „Original“ nennen. Als er an das Sterbebett seiner Mutter in Korfu eilte, wurde er während der Militärdiktatur in den siebziger Jahren noch einmal verhaftet, und es hat lange gedauert, bis österreichische diplomatische Vertreter sich für ihn eingesetzt haben.

Im Zuge der Gedenkveranstaltung „386“, die der Verein B-project, der Regisseur Gerald Buchas und ich am Platz vor der Strafanstalt organisiert hatten in Erinnerung an die 50. Wiederkehr des Massakers, sprach er erstmals öffentlich über sein Leben. 386 Kreuze standen für einige Wochen mit den Namen und Daten der Opfer rund um die Strafvollzugsanstalt. Zehn Schauspieler sprachen die Erinnerungen von Häflingen, Opfern und Zeitzeugen auf offener Straße. Der Schauspieler Ottokar Lehrner war an diesem Tag Gerasimos Garnelis. „Den 6. April werde ich nie vergessen, alles kann man vergessen, das aber nicht, dieser Tag ist nicht so schnell zu vergessen, ich kann ihn nicht vergessen. Ich bin etwas marod gewesen, ich habe Fieber gehabt, ich hatte mich verkühlt, denn wir hatten nur Holzpantoffeln und keine Strümpfe gehabt, nur so Fetzen, so sind wir im Schnee gegangen. Das war so Mittag, ich bin Richtung Haupttor gegangen, ich bin bei dem einen Tor rausgegangen, da habe ich plötzlich einen Schuß gehört, ich habe sofort nur einen Gedanken gehabt, daß der Russe da ist. Ich bin weitergegangen, Richtung Haupttor, ich habe gehört, daß jemand zu mir sagt: ,Zurück!‘ Ich habe das nicht verstanden, ich habe mir gedacht, wir sind frei, ich will hinaus, ich habe dann immer mehr Schüsse gehört. Plötzlich habe ich dann Soldaten hereinlaufen gesehen, da habe ich dann gewußt, da stimmt was nicht. Da hat dann einer auch schon geschrien: ,SS, SA!‘ Draußen haben sie richtig geschossen. Ich war plötzlich bewußtlos, nach einer Zeit, ich weiß nicht, wie lange, bin ich munter geworden. Im Gesicht, in der Hand, auf dem Kopf, ich war von mehreren Schüssen getroffen. Ich mache die Augen auf, da haben sie mich gebrannt, es war alles voll Blut. Da habe ich gewußt, da stimmt was nicht, das können doch nicht die Befreier sein. Ich mache dann wieder die Augen auf und sehe die SS herumlaufen und weiterschießen, mit Maschinenpistolen. Ich bin liegengeblieben, wahrscheinlich drei, vier Stunden gelegen, die haben nicht mehr so wild geschossen, aber einzelne Schüsse hat man noch gehört, manchmal auch Schüsse etwas weiter weg. Dann kommen zwei Griechen zu mir, der eine nimmt mich bei der Hand, der andere am Fuß und sie schleppen mich weg. Die haben mich ganz einfach auf diesen Haufen geworfen. Die haben gesagt: ,Paß auf, damit du nicht erstickst, wir legen nur zwei Tote über dich, mehr können wir nicht machen. Wenn du schreist, so merken das die SSler, die erschießen dann alle.‘ Die zwei haben geglaubt, daß sie nach ihrer Arbeit auch erschossen werden. Dann ist eine andere Partie gekommen, die haben wieder Tote auf mich geschmissen, wie viel, daß weiß ich nicht. Weil ich echte Schmerzen gehabt habe, ich habe nicht schreien dürfen, habe ich die Hand des Toten genommen und habe hineingebissen, ich habe das ganze Fleisch der Hand einfach durchgebissen. Dann habe ich auch gehört, wie sie gesagt haben, jetzt müssen wir das ausschaufeln und dann werfen sie uns hinein. Dann ist es finster geworden.“

Gerasimos Garnelis war damals, im April 1995, unter den Zuhörern, und plötzlich war er der elfte Mann und berichtete selbst über sein Leben. Die positiven Reaktionen auf die Berichte und den Filmbericht waren für ihn so etwas wie eine zweite Verleihung der Staatsbürgerschaft, er fühlte sich erstmals akzeptiert. Damals haben die Versuche begonnen, ihn auch offiziell, durch die Stadt und das Land, zu ehren, vergeblich, wie auch Vizebürgermeister Ewald Sacher bilanziert, der als einziger offizieller Vertreter der Stadt zum Begräbnis kam: „Drei Wochen vor seinem Tod traf vom Land Niederösterreich die Mitteilung ein, daß eine Ehrung für Gerasimos Garnelis ohne Angabe von Gründen verweigert wird. Zum Glück hat er das nicht mehr erleben müssen.“ „Mit dem zweiten Tod von Gerasimos Garnelis sind uns alle Chancen genommen worden, ihm auch gerecht zu werden. Was wir bisher nicht getan haben, jetzt können wir es nicht mehr tun“, mußte es am offenen Grab heißen. Rote Nelken auf dem einfachen Sarg, Kränze des 1. FC Stein, dessen Präsident Gerasimos war, rote Gerbera von der KPÖ, Kränze von Freunden, ein Lied von Mikis Theodorakis und Maria Farandouri. Das offizielle Griechenland nimmt Abschied von einem Patrioten: Der Metropolit und der Konsul sind mit einer Delegation nach Krems gekommen, der Bruder ist aus Korfu angereist. Sie sind doch nicht allein, denn mehrere Dutzend Kremser sind an diesem eisigen Märztag auf den Friedhof in Stein gekommen. Das Grab von Gerasimos Garnelis liegt ganz in der Nähe des Massengrabes der 386 Opfer des Massakers.


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