Robert Streibel

Eugenie Schwarzwald: 1.8.1940

Eugenie Schwarzwald
1.8.1940: sieben Tage vor ihrem Tod erschien erschien dieser Artikel in der „Zürcher Illustrierten“

Der Artikel „Wer hat meine Bücher?“ ist ein Nachdruck aus dem „Der Wiener Tag“, der auf den Tag genau – fünf Jahre zuvor -, ebenfalls am 1.8.erschienen war. Wer hätte damals geglaubt, dass die Schule geschlossen, die jüdischen Schülerinnen wie viele Freunde auf der Flucht sein würden? Für eine Germanistin ist es wohl mehr als nur berührend, wenn der letzte Artikel ihrer Bibliothek gewidmet ist. Man könnte meinen, es geht auch um ihre durch die Flucht vor den Nazis verschwundene Bibliothek. Wer kann schon alle Bücher in die Emigration mitnehmen? Aber die Suche nach den Büchern hat nichts mit dem Raub durch die Nazis zu tun, sondern mit jenen Menschen, die sich Bücher ausborgen.

Robert Streibel (Hg.) – Das Vermächtnis der Eugenie

Eugenie Schwarzalds Artikel und Feuilletons stehen im Zentrum der Festrede der Schriftstellerin Bettina Balàka im Wiener Rathaus am 3. November 2020. Es ist schön, dass die Stadt sich dieser außergewöhnlichen Frau erinnert und die richtige Literatin dafür gefunden hat.

Wer hat meine Bücher?
Ich habe eine Bibliothek. Das heißt: ich hatte eine Bibliothek. Von jung auf habe ich Bücher gekauft und Bücher geschenkt bekommen. Aber jetzt sind sie weg. Leider nicht alle.

Wenn man gar keine Bücher hätte, so wäre das wenigstens originell und jedenfalls keine Quelle des Ärgers. Wenn aber in der Weimarer Goethe-Ausgabe der Band „Faust I“ fehlt, in der Beuschot-Ausgabe von Voltaire der philosophische Dictionnaire, in der schönen Vorkriegsausgabe von Dostojewski der „Idiot“, von Gogol der „Revisor“, von Fontane der „Stechlin“, wenn die Hebbel-Tagebücher in Wildleder weg sind, so geht einem das ans Herz. Und nicht zu vergessen, auch die Bücher von Frank Heller fehlen.

Was ist mit meinen Büchern geschehen? Meine Freunde berühmt und unberühmt, halten doch alle auf das siebente Gebot. Aber meine Bücher sind doch fort. Auf verschiedene Arten kommen sie alle aus dem Haus. Entweder sind sie eines Tages spurlos verschwunden. Oder es kommt eine und fragt in fliegender Eile: „Du, darf ich mir die Gedichte von Trakl auf die Elektrische mitnehmen?“ bedächtig und ordnungsliebend ein anderer: „Bitte trag in dein Vormerkbüchlein ein, dass du mir Sinclair Lewis „Babbit“ für vierzehn Tage geborgt hast.“ Es gibt noch viele Arten, Bücher auszuführen. Aber auf alle Arten kommen sie nicht wieder.

Der Bucheigentümer kann nichts dafür es versteht sich von selbst, dass man Bücher verborgt. Das befiehlt der Gemeinschaftssinn. Wenn schon nicht alle materiellen Dinge alle gemeinsam gehören können, müssen es wenigstens die geistigen. Der Freund sagt: „Ich habe wenig Geld und kann mir nicht viel Bücher kaufen. Leih mir das Buch, ich will sehen, ob es mir wert ist, dass ich es anschaffe.“ Oder: „Da ich mir keine Bücher kaufen kann, so ist deine Bibliothek die meine.“ Oder: „Jetzt in der Nacht kann ich das Buch nicht kaufen, ich muss es aber heute lesen.“ Es gibt nur sehr wenige Menschen, die in diesen Fällen den Mut haben, nein zu sagen oder sich gar auf Grundätze zu berufen, die ihnen das Bücherverborgen verbieten. Zu diesen Leuten gehöre ich nicht. Die Folgen davon sind die schmerzlichen Lücken in meiner Bibliothek. Wo ist Storms „Immensee“, das mir mein Vater zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt hat? Auf das Vorsatzblatt hatte er ein selbstverfasstes Gedicht geschrieben, welches mir damals wunderschön vorkam. Wo ist Burckhardts „Renaissance in Italien“? Das war mein erstes Honorar für Unterricht im Mittelhochdeutschen, und ich war stolz darauf. Und wie viele Quellen der Heiterkeit sind verschüttet! Wo sind die Gedichte von Friederike Kempner, die so schön sagte: „Sogar schon auf dem Lande, bei Mist und bei der Kuh, gedenkt man meiner Muse, was sagt ihr Neider nun?“ Und wo soll ich Dedekinds „Rosa“ suchen, ein Trauerspiel, welches ausdrücklich in Währing-Weinhaus spielte und worüber wir seinerzeit Kübel von Lachtränen vergossen haben? Alles ist weg.

Aus den verschiedenen Quellen fließt mein Schmerz um die entschwundenen Bücher. Ich trauere um jene, die ich zu lesen versäumt habe, um manche die ich allzu flüchtig las, um solche, denen ich Anregung und Freud verdanke, um alle, an die sich eine Erinnerung knüpft. Und wieviel von ihnen sind auch materiell unersetzlich! Erstdrucke waren dabei, die nun für immer vergriffen sind, sorgsam behütete Jahrgänge verschollener Zeitschriften. Aber das Schlimmste bleiben doch die seinerzeit unter Entbehrungen angeschafften Gesamtausgaben, denen jetzt ein Einzelband fehlt. Wie ein ausgebrochener Zahn.

Ein ganz besonderer Unstern waltet über Büchern, die einem von den Verfassern selbst gewidmet sind. Je berühmter der Name und je intimer die Widmung, desto sicherer geraten sie in Verlust. Letzthin wurde mir eine schwere Zahnoperation durch ein kleines Erlebnis im Wartezimmer versüßt. Ich fand dort auf den Tisch zwischen einem alten Jahrgang der „Meggendorfer“ und einer Anpreisung von Abbazia ein schönes, lang vermisstes Buch wieder, mir teuer durch eine zärtliche eigenhändige Widmung des Autors. „Wo haben Sie das Buch her?“ fragte ich die Assistentin. „Ein dicker, älterer Herr hat es hier vergessen.“ Sie nannte einen mir unbekannten Namen.

Von den Menschen, die Bücher entlehnen, sind etwa 20 Prozent ordentliche Leute. Die weiteren 80 Prozent – diese Statistik ist natürlich so falsch wie die meisten Statistiken – handeln anders. Viele von ihnen haben einfach kein Verständnis zum eigenen Buch. Achtlos nehmen sie es weg, sorglos geben sie es weiter. Sie empfinden geistige Werte nicht als Lebensnotwendig. Bei ihrem Mangel an Phantasie können sie nicht begreifen, wie sehr sie den Bücherfreund berauben. Es ist vielleicht kein Zufall, dass selbst reiche Leute Büchermarder sind. Scheint Menschen Geldbesitz wichtig, so ist ihnen sehr häufig Buchbesitz nichtig. Menschen, die in einem Haus das nicht das ihre ist, sich nicht einmal eine Wicke ins Knopfloch stecken, nicht ein Bonbon vom Tablett und nicht eine Zigarette aus der Schachtel nehmen, ohne darum gebeten zu sein, pflegen Bücher zu stehlen. Denn ein Buch 20 Jahre nicht zurückgegeben, heißt ja auch es entwendet haben.

Häufig entlehnt man ein Buch aus einer Art von Assimilationstendenz an den Besitzer. Wo mag er nur seine Überlegenheit herhaben? Denkt man. Aha, aus seinen Büchern. Man borgt sich das Buch, von dem er gerade spricht: aber das heißt noch durchaus nicht, es lesen. Die Funktionstheorie von Lagrange, die man dem Freunde entführt hat, zu Hause angelangt, weiß man nicht, was man mit ihr anfangen soll. Immer weiter schiebt man das Studium hinaus. Allmählich wird einem schon der Anblick des Buches zuwider. Zuletzt fühlt man sich sogar dem Eigentümer entfremdet. Dieses Buch, denkt man, kann mir gestohlen werden. Und richtig, eines Tages wird es einem gestohlen.

Vielfach sind es auch materielle Gründe, aus denen Bücher nicht zurückgegeben werden. Das befleckte und zerrissene Buch kommt nie zurück. Auch weiß man nicht mehr, wem das Buch gehört. Oder man steht verzweifelt vor der Aufgabe, es einzupacken und zu adressieren. Man hat niemand zu schicken. Es persönlich zurückzubringen, fällt einem nicht ein. Denn derselbe „Zauberberg“, den man vor drei Jahren in die Aktenmappe befördert hat, geht jetzt nicht mehr in die Mappe hinein. Ist die Mappe kleiner geworden? Der „Zauberberg“ dicker? Nein, nur war damals die Freude das Buch zu lesen, miteingepackt, und die war zart, während die Unlust, es zurückzugeben, kompakter ist.

Außer geschlossenen Bücherschränken gibt es keine Abhilfe gegen dieses soziale Übel. Ein Exlibris? Da lebt in Deutschland ein Mann, der sammelt Exlibris, indem er einfach die damit versehenen Bücher nicht zurückgibt. er ist so zu einer schönen Bibliothek gekommen, hat aber natürlich viel Mühe gehabt, da er die Bücher einzeln zusammenborgen musste. Anders ein Beamter in X., der bei Eintritt in sein jetziges Amt die gesamte Bibliothek aus einer früheren Stellung als Ganzes in seinen Privatsalon verpflanzte. Aber was ist das gegen den berühmten alten Gelehrten, der kürzlich seinen Erben eine kostbare Bibliothek hinterließ, in der sich Bücher befanden, die er durch Entlehnen aus der Nationalbibliothek erworben hatte!

Da es sich um keine neuzeitliche Seelenschlamperei handelt, ist aus der Lebensgeschichte Bauernfelds zu erkennen. Wenn Freunde des alten Bauernfelds ein ihm geliehenes Buch zurückverlangten, so sagte er: „Wer kann wissen, wer das hat! Nimm dir dafür a Buch aus meiner Bibliothek.“ Befolgte der Freund den Rat und machte das Buch dann zu Hause auf, so stand darin etwa: „Joseph Hellmesberger seinen lieben Dr. Josef Weissel“, den Bauernfeld besaß kein einziges Buch, das nicht einen anderen gehörte.

In Stunden der Auflehnung fühlte man sich versucht, dem alten Herrn recht zu geben, den ich einmal in einen Buchladen in höchster Erregung habe ausrufen hören: „Celui qui emprunte des livres, est uns criminel, celsui qui les prete, un idiot.“ Nein, die Leute, die Bücher entführen und nicht zurückgeben, sind keine Verbrecher. Sie stehen nur unter einem komischen Gesetz. Das Buch richtet augenscheinlich an die Besucher die stille Aufforderung: Nimm mich mit. Der darin wirkende Autor verlangt nach Beachtung. Schon zu lange hat keiner von ihm Kenntnis genommen. So wirkt jeder, der Bücher nimmt, verliert und unter die Leute bringt, wie ein Windstoß, der Samen weiterträgt, damit irgendwo eine Pflanze Wurzel fasse.

Aber das ist kein Trost für den Verlustträger, der den schweigenden Umgang mit den höchsten Geistern liebt, der nur aus Büchern zu schöpfen ist. Mac Caulay hat recht, wenn er sagt: „Plato ist nie schlecht gelaunt. Cervantes ist nie frech. Demosthenes kommt nie zu ungelegener Zeit. Dante hat nicht die Gewohnheit, zu lange zu bleiben.“ Die Beziehung zu diesen wunderbaren Freunden gestört zu sehen, ist hart. Wie friedlich stehen sie an den Wänden. Wie tröstlich ist manchmal ein Satz, absichtlich ausgesucht oder zufällig aufgeschlagen. Schon der Anblick eines Buchdeckels kann befreiend und beruhigend wirken. Da nimmt man einem das Buch weg und es ist aus dem Leben geschwunden. Manchmal verspürt man noch eine Leere. Allmählich verschwindet auch diese, dann ist das Buch ganz weg. Man ist ärmer geworden und weiß es nicht einmal.

Wer hat meine Bücher?

(Transkription, Juli 2020 Ursula Jokl)

 

 

 

 

 

 


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